Granger Ann - Varady - 03
lernen!‹«
Tig schüttelte heftig den Kopf und beugte sich vor. Ihr
verkniffenes, blasses Gesicht war rot angelaufen. »Hör zu,
ich weiß, es klingt nicht so schlimm, wenn ich es jetzt erzähle. Sie haben mich nicht geschlagen. Dad hat seine Hand
nicht in mein Höschen gesteckt, nichts dergleichen. Es war
nur tagaus, tagein Druck, immer wieder Druck. Ich konnte
ihm nicht entkommen, nicht dort. Also … also bin ich weggegangen.«
Jeder hat seine guten Gründe für das, was er tut. Es spielt
keine Rolle, ob sie in den Ohren anderer gut oder schlecht
klingen. Für die betroffene Person sind sie gut genug.
»Verstehst du«, sagte Tig traurig, »wie schwer es ist für
mich, auch nur darüber zu sprechen, dass ich wieder nach
Hause gehe? Wie enttäuscht sie sein werden, wie schockiert,
wie entsetzt? Ich weiß nicht, ob sie damit fertig werden. Das
ist der Grund, aus dem du zuerst mit ihnen reden sollst. Um
es herauszufinden.«
»Ich werde mein Bestes tun, Tig«, versprach ich. »Ehrlich,
ich werde mein Bestes tun.«
Ich hoffte inbrünstig, dass ich den Mund nicht zu voll
genommen hatte.
KAPITEL 9 Nachdem ich Daphne im Augenblick so viel Scherereien und Ärger beschert hatte, konnte ich
sie schlecht fragen, ob ich von ihrem Telefon aus ein Ferngespräch nach Dorridge führen dürfte. Ich meine damit nicht,
dass ich nicht bezahlen wollte. Ich bezahlte jedes Mal, wenn
ich Daphnes Telefon benutzte. Aber ich hätte ihr vielleicht
von Tig erzählen müssen. Daphne hätte interessiert und – ich
war ziemlich sicher – mitfühlend zugehört, aber sie hätte sich
neue Sorgen gemacht. Außerdem brauchte ich Zeit, um zu
überlegen, was ich sagen würde. Je mehr ich nachdachte, desto weniger gefiel mir die ganze Idee.
Am nächsten Morgen erzählte ich Ganesh, was sich ereignet hatte. Er fühlte sich tatsächlich besser und hatte den
Verband abgelegt, auch wenn auf seiner Stirn immer noch
ein großes Pflaster prangte. Ich sagte ihm, dass er sich hinter
dem Tresen auf einen Hocker setzen und dort bleiben sollte,
während ich das Laufen übernehmen würde. Ich würde den
ganzen Tag lang bleiben, bis der Laden abends geschlossen
wurde. Wenigstens blieben mir Hitch und Marco erspart –
wie es schien, kamen sie an diesem Tag nicht vorbei, um die
Arbeit zu beenden.
»Er hat irgendein Problem mit seinem Lieferanten wegen
der Bodenfliesen«, sagte Ganesh.
Ich verzichtete auf einen Kommentar deswegen, doch mir
war klar, dass die beiden den Laden lieber mieden, solange
die Chance bestand, dass sie auf Polizei treffen würden.
Keiner der beiden mochte es, unangenehme Fragen zu beantworten. Während der Kaffeepause erzählte ich Ganesh
von Tig »Du hättest dich da raushalten sollen«, sagte Ganesh, als ich fertig war. »Du kannst bei dieser Geschichte
nicht gewinnen. Sag ihr einfach, du hättest dir die Sache anders überlegt.«
»Du warst doch derjenige, der gesagt hat, sie soll nach
Hause zurück!«, protestierte ich.
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich denke immer noch,
dass es das Beste für sie wäre. Aber ich habe nicht gesagt,
dass du ihre Rückkehr einfädeln sollst. Familienangelegenheiten …«, schloss er, und er kannte sich schließlich aus,
»Familienangelegenheiten sind immer schwierig.«
»Es ist ihre einzige Chance, Gan. Sie hat Recht, sie hat alleine keine Chance, auf der Straße zu überleben. Sie sieht
krank aus. Sie muss sich mit diesem schrecklichen Jo Jo einlassen, nur um ein wenig Schutz zu bekommen. Sie muss da
raus, und zwar schnell!« Traurig fügte ich hinzu: »Und ich
habe ihr angeboten, ihr zu helfen.«
»Dumm von dir«, sagte Ganesh. Er hatte immer noch
Kopfschmerzen, und das machte ihn verdrießlich. Trotzdem dachte er klarer als ich. »Betrachte es doch mal vom
Standpunkt ihrer Eltern«, fuhr er fort. »Sie haben monatelang darauf gewartet, etwas von Tig zu hören. Und plötzlich,
aus heiterem Himmel, bekommen sie einen Anruf von einer
wildfremden Person, die behauptet, ihre verschwundene
Tochter zu kennen. Die Fremde will vorbeikommen und sie
besuchen und die Heimkehr der Tochter mit ihnen besprechen. Wie würde das in deinen Ohren klingen?«
»Nach einer krummen Geschichte«, antwortete ich kläglich.
»Nur zu wahr. Als Erstes werden sie von dir wissen wollen, was für dich dabei herausspringt.«
»Nur mein Honorar«, sagte ich. »Und es wird nicht gerade viel von dem Geld, das Tig mir gegeben hat, übrig bleiben, nachdem ich die Fahrkarte davon bezahlt habe.«
»Wen
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