Granger Ann - Varady - 03
Bürgersteige waren nass, und das
Licht aus den Bars und Restaurants warf glänzende gelbe
Streifen auf das Pflaster. Durch die Fenster sah ich Weihnachtsdekorationen an Wänden und Decken, jede Menge
glitzerndes Lametta, Papierglocken und Plastikkram. Es sah
wirklich festlich aus und machte mich traurig. Jedermann
war in Weihnachtsstimmung. Die Leute gingen aus und eilten an mir vorüber, während sie lachten und sich gut gelaunt unterhielten. Hier und dort blieben sie vor einem Restaurant stehen, studierten die außen angeschlagene Speisekarte, überlegten und betraten das Lokal oder gingen weiter,
je nach Laune. Sie waren unterwegs, um sich zu amüsieren.
Ich ging abends niemals aus. Ich ging nie irgendwohin,
und das eine Mal, wo ich doch ausgegangen war, zum
Weihnachtsessen für das Personal von Onkel Hari, war ich
nach Hause zurückgekommen und hatte eine Leiche vor
meiner Tür gefunden. Warum passiert so etwas immer mir?
Warum passiert es nie anderen Leuten?
Ich begann über Coverdale nachzudenken und seinen
unerfüllten Wunsch, mit mir zu reden. Je länger ich darüber
nachdachte, desto mehr beunruhigte es mich. Seine Mörder
würden in Erfahrung bringen wollen, warum er so begierig
darauf gewesen war, sich mit mir zu treffen. Sie hatten den
Laden überprüft, weil sie gründlich vorgingen. Doch letzten
Endes würden sie zu der Erkenntnis gelangen, dass Coverdale mir den Film entweder gegeben – oder dass ich ihn gefunden hatte und er gekommen war, um ihn von mir zurückzuholen. Das war wahrscheinlich der Grund für seine
Kontaktaufnahme gewesen. Entweder das, oder er war gekommen, um mir zu verraten, wo er ihn versteckt hatte,
und um mich zu bitten, ihn für ihn zu holen. Er konnte nicht
riskieren, den Laden zu betreten, für den Fall, dass die Typen,
die hinter ihm her waren, Onkel Haris Laden beobachteten.
Sie hatten nicht den Laden beobachtet, sondern Coverdale,
und zwar erfolgreicher, als er hatte ahnen können.
Wie man es auch betrachtete, die Halunken würden mit
Sicherheit erkennen, dass ich der Schlüssel zu ihren Negativen war. Die Polizei hatte die Nachricht unterdrückt, dass
sie im Besitz des Materials war. Ich war auf mich allein gestellt, wie ein Köder, eine Ziege auf der Lichtung, die auf
den Tiger wartete. Oder mehrere Tiger, was das betraf.
Es war kein fröhlicher Gedanke, und er machte mich
höchst nervös. Ich blickte immer wieder über die Schulter
nach hinten und fragte mich, ob ich auf direktem Weg nach
Hause gehen oder irgendeinen Umweg einschlagen sollte,
um jeden etwaigen Verfolger abzuschütteln. Doch wenn sie
Coverdale vor meiner Wohnungstür erledigt hatten, dann
mussten sie mir nicht folgen, um herauszufinden, wo ich
wohnte. Dann wussten sie es bereits.
Trotzdem blickte ich mich immer wieder um, schon aus
Prinzip. Ich war so sehr damit beschäftigt, mich ständig
umzusehen, dass ich fast mit jemandem zusammengestoßen
wäre, der aus einem Eingang vor mir auf die Straße trat,
und als dieser Jemand dann auch noch meinen Namen rief,
erlitt ich fast einen Herzanfall.
»Fran?«
»O Gott, Tig!«, gurgelte ich. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Was ist denn los mit dir?«, fragte Tig.
Ich hatte nicht auf der Straße herumhängen wollen, genauso wenig wie sie, und so nahmen wir Zuflucht in einem nahe
gelegenen Café, einem schmalen, lang gestreckten Laden, der
sich nach hinten zog wie ein Tunnel. Er war voll gestellt mit
kleinen runden Marmortischchen. Im Sommer stand ein Teil
der Tische auf dem Bürgersteig, doch in dieser Jahreszeit würde sich nur ein Irrer oder ein Eisbär nach draußen setzen.
Tig und ich hatten uns ganz nach hinten in das Café zurückgezogen, an einen möglichst weit von der Tür entfernten Tisch, wo wir unsere Espressos tranken.
»Ich hab Angst, Jo Jo könnte reinkommen und mich sehen«, hatte Tig erklärt und war vorangegangen. Jetzt musterte sie mich neugierig. »Wem willst du denn aus dem
Weg gehen?«
»Frag nicht«, antwortete ich. »Ich darf nicht darüber reden.«
Sie zuckte die Schultern. Es war ihr sowieso egal. Sie sah
weder besser noch gesünder aus als bei unserer letzten Begegnung, im Gegenteil. Die dunklen Ringe um ihre Augen
waren noch dunkler geworden, der verkniffene Gesichtsausdruck noch deutlicher, und in ihren Augen stand mehr als
nur Angst vor Jo Jo. Es war eine tiefere Angst, und diese
Angst hatte sie dazu getrieben, nach mir zu suchen. Ich wartete geduldig, bis sie erzählte, was es
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