Granger Ann - Varady - 04
ihren Bahnen. Ich vermutete, dass Ganesh irgendwo hinter uns war, ein wenig wie
der kleine Junge, der der Frau durch das Gitter gefolgt war,
wenn auch nicht ganz so nah. Es ist ein eigenartiges Gefühl,
wenn man weiß, dass man von jemandem verfolgt wird, aber
nicht genau weiß, wo sich der oder die Verfolger befinden.
Man hat einen instinktiven Drang, sich immer wieder umzusehen. Man muss sich richtig konzentrieren, um sich nicht
umzudrehen. Jetzt wusste ich, wie Orpheus sich gefühlt haben musste, als Eurydike ihm aus dem Hades gefolgt war,
und ich konnte gut verstehen, wieso er nicht im Stande gewesen war, der Versuchung zu widerstehen, und sich umgeblickt hatte.
Glücklicherweise war Wilde zu sehr mit seinen eigenen
Problemen beschäftigt. Er schien nichts von meiner Nervosität zu bemerken, oder falls doch, schrieb er sie unserem
Treffen zu. Wir kämpften uns über das nasse Pflaster der
Oxford Street, an Schaufenstern vorbei, an Esskastanienständen und an Zeitungsjungen, die die neueste Ausgabe
von Big Issue verkauften, und landeten schließlich in der
Souterrain-Cafeteria des D. H. Evans mit zwei Tassen Kaffee
auf dem Tisch zwischen uns.
Zwei oder drei Frauen auf Einkaufstour saßen ein wenig
abseits und ruhten sich aus, doch Ganesh war nirgendwo zu
sehen. Ich hatte in jedes Schaufenster gestarrt, an dem wir
vorbeigekommen waren, und getan, als interessierte ich
mich für die Auslagen, angefangen bei Mode bis hin zu Geschirr, ohne meinen glänzenden Ritter in seiner leuchtenden
Motorradjacke zu erspähen. Ich nahm nicht an, dass wir ihn
verloren hatten. Vielleicht war er da, dicht hinter uns, doch
es herrschte inzwischen Zwielicht, und die hell erleuchteten
Fensterscheiben reflektierten nicht mehr so stark wie tagsüber. Gleichgültig, wie geschickt Ganesh als Beschatter sein
mochte – ich hoffte inbrünstig, dass er Verstand genug besaß, um nicht in dieses Café zu kommen. Es würde zu offensichtlich aussehen, wenn er sich ganz allein an einen Tisch
setzte und die Ohren in unsere Richtung spitzte.
»So, und was wären das für Neuigkeiten?«, fragte Wilde
schließlich im gleichen herablassenden Ton, den er von Anfang an an den Tag gelegt hatte.
»Bevor ich anfange«, sagte ich, »lassen Sie uns klarstellen,
dass Sie nicht länger so tun, als wäre Nicola nicht meine
Schwester.«
»Ich werde meine Tochter niemals als Ihre Schwester betrachten!«, giftete er wütend. »Allerdings verstehe ich, ohne
etwas zuzugeben, dass sich Eva angesichts ihrer gegenwärtigen Umstände für das Leben unserer Tochter interessiert.
Und das trotz der Tatsache, dass sie vor dreizehn Jahren jeglichen Anspruch auf sie aufgegeben hat, den sie vielleicht zu
haben glaubte. Ich räume wohlgemerkt nicht ein, dass sie
auch nur das geringste Recht hat, dieses Interesse auf die
Weise durch Sie verfolgen zu lassen, wie das der Fall war.
Dadurch bringt sie mich und meine Familie in Schwierigkeiten. Wir haben nichts getan, um so etwas zu verdienen!«
»Jetzt kommen Sie endlich mal von Ihrem hohen Ross
runter!« Ich hatte genug von seinem Sermon. »Sie sind auf
dem Holzweg, und das wissen Sie! Bin ich diejenige, die etwas zu verbergen hat, oder sind Sie das? Wären Sie nicht
halb tot vor Angst, würden Sie sich bestimmt nicht hier mit
mir unterhalten. Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, Sie und
Ihre Frau und ich, wir sitzen alle im gleichen Boot. Ich habe
Sie heute um ein Treffen gebeten, weil ich Sie warnen
möchte. Die Polizei hat nämlich herausgefunden, dass meine Mutter ein weiteres Kind hatte. Sie weiß, dass das Baby
Miranda hieß und dass es zusammen mit meiner Mutter das
Krankenhaus verlassen hat, und zwar wohlauf und lebendig.
Und jetzt will sie wissen, was aus diesem Baby geworden
ist!«
Der Schreck angesichts dieser Eröffnung vertrieb jeglichen Hochmut aus seinem Gesicht. Er lief ganz grün-grau
an, und ich dachte schon, er würde sich im nächsten Augenblick übergeben, und machte mich bereit, dem Erbrochenen auszuweichen.
»Die Polizei weiß es?«, flüsterte er.
Ich nickte. »Machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe
nicht geredet, und ich werde es nicht tun. Genauso wenig
wird meine Mutter der Polizei erzählen, was sie getan hat,
falls jemand zu ihr kommt und fragt. Sie hat keine Angst
vor den Behörden, nicht angesichts ihrer gegenwärtigen Lage. Vielleicht kommt es gar nicht mehr dazu, dass sie verhört werden kann, wenn das Hospiz es verhindert.«
»Ich glaube das einfach nicht!«,
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