Granger Ann - Varady - 04
Wahrheit weiter.
Nicht der ganzen Wahrheit, jedenfalls nicht in diesem Fall,
doch zumindest ausreichend Wahrheit.
»Mein Name ist Francesca Varady«, sagte ich. »Ich wohne
in Camden und hatte einen ziemlich weiten Weg hierher.
Meine Mutter Eva Varady ist sehr krank. Sie war früher mit
den Wildes bekannt.« Ich atmete tief durch und nannte ihr
den Namen der Sterbeklinik in Egham. »Dort liegt meine
Mutter, und falls Sie dort anrufen möchten, dann können
Sie das gerne tun.« Ich kramte in meiner Tasche und brachte das Stück Papier zum Vorschein, auf dem ich die Adresse
und die Nummer des Krankenhauses notiert hatte, die Clarence Duke mir gegeben hatte. »Sie erwartet nicht, dass die
Wildes sie besuchen oder so was. Im Grunde genommen
möchte sie nur wissen, wie es ihnen geht und ihnen Lebwohl wünschen.«
Mrs Mackenzie nahm den Zettel entgegen und überflog
ihn. Dann reichte sie ihn dem jungen Mann, der ihn ebenfalls las und dann sagte: »Ich rufe dort an, wenn du möchtest, Tante Dot.«
»Würdest du das für mich tun, Ben, mein Lieber?« Sie
wirkte erleichtert. Jemand nahm ihr die Entscheidung ab.
Sie wandte sich wieder zu mir. »Möchten Sie vielleicht hereinkommen und solange warten, Miss Varady? Ben wird
im Hospiz anrufen. Ich bin sicher, Sie werden meine Vorsicht verstehen?«
»Aber selbstverständlich«, antwortete ich. Angesichts der
Notiz an ihrer Tür hatte ich überhaupt nichts anderes erwartet.
Ich folgte ihr ins Innere des Hauses, während sie voranging und jeder ihrer Schritte vom hohlen, dumpfen Bums
ihres Stockes begleitet wurde. Sie führte mich am Telefon
auf einem kleinen halbrunden Tisch vorbei, wo Ben stand
und darauf wartete, dass er den Anruf erledigen konnte.
Aus dem Geruch eines Hauses kann man eine Menge erfahren, wenn man es zum ersten Mal betritt. Dieses Haus
hier roch nach Politur mit einer Spur von Lavendel, nach
alten Möbeln und noch etwas anderem. Ich meinte etwas zu
riechen, das mir auch schon in der Sterbeklinik aufgefallen
war, nicht so offensichtlich, ganz und gar nicht, doch es
hing trotzdem in der Luft. Es ist schwer, den Geruch von
Krankheit zu definieren – nicht immer natürlich. Als der
französische Kardinal Richelieu im Sterben lag, so habe ich
im Geschichtsunterricht erfahren, war der Gestank seiner
brandigen Gliedmaßen so überwältigend, dass keiner sein
Zimmer betreten wollte. Die Besucher hasteten geduckt
hinein und hinaus, weil sie es nicht ertragen konnten. Doch
vielleicht hatten sich die Menschen angesichts Richelieus
Stellung und Ruf schon immer geduckt bewegt in seiner
Gegenwart, aus Angst, sich zu lange in seiner gefährlichen,
machtvollen Nähe aufzuhalten. Es hatte Richelieu wahrscheinlich nichts ausgemacht. Doch der Gestank, vor dem
seine Besucher geflüchtet waren, der Geruch seines eigenen
verrottenden Leibes, die Verwesung schon vor dem eigentlichen Tod, das muss etwas Entsetzliches gewesen sein.
Wir gelangten in ein Wohnzimmer auf der Rückseite des
Hauses. Wie nicht anders zu erwarten, war es gemütlich eingerichtet und sehr ordentlich. Das Mobiliar war ausnahmslos
älter, doch es glänzte und war frei von jeglichem Staub. In einer Ecke stand ein Gaskamin mit künstlich glimmenden
Kohlen hinter einer Sichtscheibe. Mrs Mackenzie und Ben
hatten offensichtlich gemeinsam Tee getrunken. Die Tassen
(die alte Dame war niemand, der sich mit einem einfachen
Becher begnügte) standen auf einem Tablett neben benutzten
Tellern mit Kuchenkrümeln darauf. Alles machte einen sehr
behaglichen Eindruck, und ich fragte mich, wie ich mich inmitten dieser Umgebung halten würde. Ich fühlte mich wie
der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.
Die Rettung kam aus einer unerwarteten Richtung. Ich
hatte kaum Zeit gefunden, alles in mir aufzunehmen, als
mir die Fotografien über dem Kaminsims auffielen, über
und neben den Regalen, selbst auf dem Fernseher. Sie zeigten ausnahmslos alle Hunde. Meine Stimmung stieg augenblicklich. Besser hätte es nicht kommen können. Es waren
alles Bilder von Jack Russell Terriern.
»Ich hab auch so einen!«, rief ich freudig aus und deutete
auf das am nächsten hängende Bild mit einem Hund, der
keck in die Kamera blickte. »Es ist eine Hündin, und sie
heißt Bonnie!«
Mrs Mackenzies steife, förmliche Haltung taute augenblicklich auf. Sie wurde entschieden freundlicher. »Tatsächlich,
meine Liebe?« Sie ließ sich umständlich in einen abgenutzten
Sessel mit hoher Rückenlehne und Armlehnen aus
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