Granger Ann - Varady - 04
hier
leben.«
Es war reiner Zufall, dass ich eine Saite in ihr zum Klingen gebracht hatte. Sie hatte mich unablässig beobachtet,
während sie auf der Stelle gekaut hatte, wo bei einem normalen Menschen die Unterlippe hätte sein müssen. Jetzt
hellte sich ihre Miene auf, als hätte sie eine Idee. »Sie könnten es bei Mrs Mackenzie in Nummer neununddreißig versuchen. Sie wohnt seit Ewigkeiten dort. Vielleicht hat sie die
Leute gekannt, nach denen Sie suchen.«
Aus der Küche ertönte ein gewaltiges Scheppern, gefolgt
von einem Schrei und etwas, das wie profundes französisches Fluchen klang.
»Ich muss gehen«, sagte die Frau. »Verdammt noch mal,
kann dieses Mädchen denn nicht einmal etwas richtig machen?«
Sie warf die Tür vor meiner Nase krachend zu. Ich entfernte mich und war ganz glücklich, dass ich keine gestresste
junge Mutter war, selbst wenn ich nicht in einem Haus im
Tudor-Stil wohnte, keinen eigenen kleinen Wagen hatte
und kein Au-pair-Mädchen. Ich glaube einfach nicht, dass
ich damit zurechtkäme. Verstehen Sie mich nicht falsch –
ich liebe Kinder. Was ich nicht mag, schätze ich, ist die damit einhergehende Verantwortung.
Vielleicht, dachte ich melancholisch, vielleicht schlage ich
in dieser Hinsicht nach meiner Mutter. Vielleicht wäre ich
irgendwann, genau wie sie, einfach davongelaufen, hätte ich
eine Familie gehabt, um die ich mich kümmern musste.
Mir war unwohl bei dem Gedanken, dass ich die Sorte
von kleinem Albtraum gewesen sein konnte, die MarieCécile das Leben schwer machte. Doch vielleicht erinnerte
ich mich einfach nicht weit genug zurück. Zugegeben, im
Kindergarten war ich diejenige gewesen, die es geschafft hatte, die Farbtöpfe umzukippen, und ich war auch diejenige
gewesen, die unabsichtlich die gesamte Dekoration des
Zimmers heruntergerissen hatte, unmittelbar bevor die
Weihnachtsfeier beginnen sollte. Und ich war auch diejenige gewesen, die, als meine Grundschule renoviert wurde,
herausgefunden hatte, dass die Arbeiter in ihre Pause gegangen waren und einen Sandhaufen verlockend unbewacht
gelassen hatten. Ich hatte eine kleine Kompanie von Kindern angeführt, bewaffnet mit allem, was als Behälter geeignet war, und den Sand emsig Schaufel um Schaufel zu einer
Stelle hinter dem Kesselhaus gebracht, wo wir uns darangemacht hatten, eine Sandburg zu bauen. Wir waren bis zu
den Türmen gekommen, bevor man uns entdeckt hatte.
Dazu kamen häufige Streitigkeiten mit den Nachbarn, die
ich ausnahmslos auf die eine oder andere Weise gegen mich
aufgebracht hatte. Beispielsweise, als ich einer freundlichen,
hungrig aussehenden Katze etwas Gutes hatte tun wollen
und ihr eine frisch geöffnete Dose Sardinen hingestellt hatte.
Das Tier hatte den Kopf in die Dose gesteckt und nicht wieder herausbekommen. Es rannte voller Panik und außer
Stande, etwas zu sehen, durch das Haus, und Sardinenöl
spritzte Wände und Möbel voll. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis mein Dad das Tier eingefangen hatte. Und dann
mussten wir es irgendwie sauber machen, bevor sein Besitzer
es wieder sah. Die Katze hatte inzwischen eine tiefe Aversion
gegen unsere gesamte Familie entwickelt und fauchte und
kratzte und biss, während wir versuchten, das Sardinenöl
und die Sardinenstücke aus ihrem Fell zu entfernen. All das
ereignete sich vor meinem erfolglosen Besuch der Privatschule, meinem Verweis von ebenjener Schule und der Demütigung, Dad und Großmutter gegenübertreten zu müs
sen, wovon ich Ihnen ja bereits erzählt habe.
»Sieh den Tatsachen ins Auge, Fran«, murmelte ich vor
mich hin. »Du warst schrecklich.«
Mrs Mackenzie hatte Netzgardinen vor ihrem Erkerfenster. Ihr winziger Vorgarten war nicht zum Stellplatz umfunktioniert worden, sondern durch eine sauber getrimmte
Ligusterhecke vom Bürgersteig abgeschirmt und mit Kacheln in einem Schachbrettmuster gefliest. Die Haustür war
dunkelbraun lackiert und besaß zwei lange, schmale Scheiben, zwischen denen ein kleines Schild klebte. Auf dem
Schild stand zu lesen:
WIR KAUFEN ODER VERKAUFEN NICHTS AN DER
HAUSTÜR. WIR ERWARTEN, DASS SIE SICH MIT LESERLICHEN PAPIEREN AUSWEISEN. MÖGLICHERWEISE WERDEN WIR SIE BITTEN, SICH EINE WEILE
ZU GEDULDEN, WÄHREND WIR IHRE IDENTITÄT
ÜBERPRÜFEN, ODER ZU EINEM SPÄTEREN, VEREINBARTEN ZEITPUNKT NOCH EINMAL WIEDERZUKOMMEN.
Das war ein guter Anfang. Ich läutete auf eine, wie ich hoffte, zuversichtliche Weise. Aus dem Augenwinkel bemerkte
ich, wie sich der Netzvorhang bewegte und wie nicht anders
zu erwarten ein
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