Granger Ann - Varady - 04
zu sehen, dass ich wenigstens einen Menschen
glücklich gemacht habe!«, giftete ich ihn verdrießlich an.
»Das ist schon okay, Süße«, antwortete er freundlich.
Ich marschierte zu Fuß nach Hause. Der klebrige Fleck
unter meinem Stiefel zog alles Mögliche an, Papierchen, Zigarettenstummel und abgefallene Blätter. Ich musste immer
wieder am Bordstein anhalten und das Zeug abkratzen.
Es war ein ereignisreicher Tag gewesen. Ich hatte eine
Spur zu den Wildes, doch Rennie Duke war mir auf den
Fersen. Alles in allem wurde die Sache allmählich extrem
kompliziert.
KAPITEL 5 Ich trottete durch die Straßen und
nahm mir reichlich Zeit für den Heimweg. »Immer nur eine
Sorge zu einer Zeit!«, pflegte Großmutter Varady zu sagen.
Schön, aber wie entscheidet man, welche von all den drängenden Sorgen ganz vorn in der Schlange steht? Sollte ich
mir das Gehirn zermartern, was ich den Wildes erzählen
würde, wenn ich sie gefunden hatte? Oder sollte ich lieber
über Rennie Duke und seine finsteren Pläne nachdenken
und darüber, wann er das nächste Mal auftauchen würde?
Oder wie ich Hari erklären sollte, dass ich keine Sozialwohnung bekommen würde? Tatsächlich wurden all diese Gedanken in den Hintergrund gedrängt durch das Bild meiner
Mutter in dem Sterbehospiz, die darauf vertraute, dass ich
Erfolg haben und Nicola finden würde – und alles, ohne die
Wildes aufzuregen und ohne dass Nicola die Wahrheit herausfand. (Ich beschloss, von meiner Schwester als »Nicola«
zu denken; es war der einzige Name, den sie je gekannt hatte.) Und dann rechtzeitig zurückzukommen und ihr alles zu
berichten. Ich konnte mich nicht drücken. Ich musste sehen, dass ich vorankam.
Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich fast jemanden angerempelt hätte. Ich bemerkte vage eine Gestalt,
vornübergebeugt wie Mrs Mackenzie es gewesen war, doch
über eine Abfalltonne, in der sie herumstocherte. Ich konnte im letzten Moment ausweichen und wollte gerade einen
Bogen um sie herum machen, als ich die Gestalt erkannte.
Es war Newspaper Norman.
»Hi, Norman!«, sagte ich.
Wenn man Norman sah, konnte man denken, er wäre ein
ganz normaler alter Tippelbruder, der auf der Straße schlief
und gelegentlich von der Heilsarmee eingesammelt und gesäubert und gefüttert wurde, um fünf Minuten nach seiner
»Aussetzung« wieder genauso ungewaschen und heruntergekommen auszusehen wie vorher. Schmuddelig genug ist
Norman jedenfalls. Er hat lange Haare und einen Bart, und
beides ist ungewaschen und ungekämmt. Er trägt einen
schmutzigen Regenmantel, eine Art Trenchcoat, über gestreiften Hosen von einem Hausanzug und einem Pullover
voller Löcher. Doch wer Norman für einen Tippelbruder
hielt, war mächtig auf dem Holzweg. Er ist keiner von jenen
ausgebrannten, deprimierten Kerlen, die auf der Suche nach
Zeitungen sind, um sich daraus ein Bett für die Nacht zu
machen oder ein paar Pence für zurückgebrachtes Altpapier
zu verdienen. Norman ist ein typisch britischer Exzentriker.
Als er mich hörte, hob er unwirsch den Blick in meine
Richtung, ohne sich von der Tonne aufzurichten. Als er
mich erkannte, richtete er sich auf und erwiderte in akzentfreiem Englisch: »Guten Morgen, meine Liebe.« Dann sah er
zum Himmel hinauf und fragte: »Oder haben wir bereits
Nachmittag?«
Ich klärte ihn auf, dass der Nachmittag bereits weit fortgeschritten war und wir uns dem Abend näherten. So früh
im Jahr wurde es schon gegen fünf Uhr dunkel.
»Gütiger Himmel!«, sagte Norman. »Wie doch die Zeit
vergeht!«
Er klang und sah mit seiner gestreiften Hose aus wie ein
Butler, der seine Anstellung verloren und kein Empfehlungsschreiben erhalten hatte, nachdem man ihn in flagrante delicto mit einem Stubenmädchen erwischt hatte, und der
nun gezwungen war, unter ganz erbärmlichen Bedingungen
zu existieren. »Ich bin noch nicht fertig«, fuhr Norman fort.
»Ich hab noch keinen Guardian. « Ein übellauniger Unterton
schlich sich in seine Stimme.
Norman machte sich tagaus, tagein mit einer Plastiktüte
auf den Weg, um weggeworfene Zeitungen zu sammeln,
daher sein Spitzname Newspaper Norman. Es ging ihm
nicht um große Mengen Zeitungen. Er suchte einigermaßen saubere und absolut vollständige Ausgaben jedes Blattes. Und das schloss alles mit ein: die Boulevardzeitungen,
die Wirtschaftszeitungen, die lokale Presse. Er machte sich
früh jeden Morgen auf den Weg, streifte über die Bahnsteige und durch Bahnhofshallen (die waren gut für
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