Granger Ann - Varady - 04
Stil hat, trotz Ganeshs gelegentlicher kritischer Anmerkungen.) Der Punkt ist vielmehr, dass
Leute, die diese Art von Leben genießen, sich auch anderer
Dinge erfreuen, Geld und Einfluss beispielsweise. Sie sind
befreundet mit Stadträten und Richtern und Anwälten und
hochrangigen Cops. Jede von ihnen vorgebrachte Beschwerde wird ernst genommen. Falls es widersprüchliche
Schilderungen eines Ereignisses gibt, beispielsweise meine
Version und die von jemandem, der dort wohnt, dann ist
von vornherein klar, wessen Darstellung von den Behörden
als glaubhafter eingestuft wird.
Ich trug die gleiche anständige Garderobe aus Blazer, Pullover, Jeans und Stiefeln, in der ich auch Mrs Mackenzie besucht hatte, und fühlte mich trotzdem noch wie ein Fisch
auf dem Trocknen. Ich wünschte, ich hätte meine Bomberjacke angezogen, weil es ein kalter Tag war. Ich wappnete
mich innerlich auf das, was mir bevorstand, indem ich an
erbauliche Vorbilder wie Jeanne d’Arc dachte oder jenen
Typen, der in der Antarktis aus dem Zelt von Scott gegangen war, und suchte die Hausnummer der Wildes.
Das Haus sah mehr oder weniger genauso aus wie die anderen. Die kunstvollen Säulen der Veranda waren weiß gekalkt, und sämtliche Farben waren neu. Das Erkerfenster
besaß Vorhänge aus irgendeiner teuren Naturfaser. Draußen vor der Tür standen Blumenkübel aus Ton, die darauf
warteten, bepflanzt zu werden, sobald das Wetter es zuließ.
Es sah alles sehr hübsch und gepflegt aus. Ich stand eine
Weile draußen und fragte mich, ob überhaupt jemand zu
Hause war. Es war kurz nach elf. Kaffeepausenzeit. Jetzt oder
nie, dachte ich.
Ich ging zur Tür und läutete. Ich hatte mir nicht überlegt,
wie ich anfangen sollte – ich dachte, es wäre sicherer, nach
Gefühl vorzugehen.
Es gibt nichts Schlimmeres als eine Geschichte, die man
sich zurechtgelegt hat, und gleich zu Anfang geschieht etwas, das sie unangemessen erscheinen lässt und einen völlig
aus dem Konzept bringt. Eigenartigerweise wurde ich, obwohl ich den ganzen Weg hierher fast krank vor Nervosität
gewesen war, vollkommen ruhig, nachdem ich die Glocke
geläutet hatte. Jetzt erledigte ich einen Job, und ich hatte
vor, ihn gut zu erledigen.
Die Tür wurde geöffnet. Die Frau, die vor mir stand, war
sicherlich bereits Ende dreißig, doch von ihrer Statur her
hätte sie ein zwölfjähriges Mädchen sein können. Nur an ihrem Gesicht und ihrer Haut erkannte ich, dass es unmöglich
Nicola sein konnte. Ich bin nicht groß, doch sie reichte mir
nur bis zur Schulter. Sie trug Jeans, von denen ich sicher
war, dass sie aus der Kinderabteilung stammten. Ein rosafarbener Strickpullover, zu lang an den Armen und an der
Taille, verlieh ihr das Aussehen, als hätte eine überängstliche
Mutter sie gegen das kalte Wetter eingepackt. Sie besaß kurze, mittelbraune, gelockte Haare, eine Stupsnase und leicht
vorstehende blaue Augen.
Ich hörte mich zweifelnd fragen: »Mrs Wilde? Mrs Flora
Wilde?«
»Ja?« Die Stimme klang zumindest erwachsen, dazu fest
und ein wenig aggressiv. Sie glaubte wahrscheinlich, ich wäre gekommen, um ihr etwas zu verkaufen. Sie wollte die Tür
bereits wieder schließen und mich auf der Straße stehen lassen.
»Mein Name ist Fran Varady«, setzte ich an.
Ich glaube, es hätte nicht schlimmer sein können, wenn
ich sie körperlich geschlagen hätte. Sie wurde leichenblass
und stolperte rückwärts, während sie ihre winzigen Hände,
an denen der Ehering merkwürdig deplatziert wirkte, abwehrend von sich streckte. Ihr Unterkiefer war herabgesunken und arbeitete jetzt, doch über ihre Lippen drang kein
Laut. Die blauen Augen starrten mich voller Entsetzen an
und drohten aus den Höhlen zu quellen. Die Tür war vollends aufgeschwungen, und ich konnte sie zur Gänze sehen,
wie sie in ihrer ordentlichen, aufgeräumten, sauberen Eingangshalle stand und aussah, als würde ihre ganze Welt in
Scherben zerfallen. Sie duckte sich und hielt die Arme abwehrend erhoben.
»Keine Sorge«, beeilte ich mich zu sagen. »Verstehen Sie
das bitte nicht falsch. Wenn Sie mich die Sache kurz erklären
lassen würden, werden Sie sehen, dass es keinerlei Grund zur
Sorge gibt.«
»Bitte …«, flüsterte sie. »Bitte, gehen Sie weg! Ich weiß
nicht, wer Sie sind. Ich will nichts von Ihnen.«
»Ich will Ihnen nichts verkaufen, Ma’am. Sie wissen, dass
ich nicht deswegen gekommen bin, Mrs Wilde. Ich habe eine Nachricht für Sie, von meiner Mutter. Aber bitte, haben
Sie keine
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