Granger Ann - Varady - 04
eigentlich schwer für dich, dir auf der Arbeit freizunehmen, um mich zu besuchen?«, fragte sie unvermittelt.
»Ich hab im Moment keine Arbeit«, gestand ich ihr. »Aber
ich habe eine Stelle in Aussicht, in einer Pizzeria. Sie hat neu
aufgemacht, das heißt, der Laden wird im Moment renoviert
und macht bald auf. Der Besitzer hat ehrgeizige Ziele. Ich muss
mich verkleiden wie jemand im Chor von Il Gondoliere. «
Sie brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Du siehst
bestimmt hübsch aus in dieser Uniform, da bin ich mir sicher.«
»Ich fühle mich ziemlich dämlich, ehrlich gestanden. Na
ja, spielt ja eigentlich keine Rolle. Im Augenblick hab ich jedenfalls genügend Zeit, um nach Kew zu fahren.«
»Ist Mr Patel heute wieder bei dir?«
»Nein. Er hat eine Arbeit und bekam nicht frei.«
Sie nickte. »Du brauchst wahrscheinlich ein wenig Geld.
All dieses Rumfahren für mich. Ich werde Schwester Helen
bitten, dir zwanzig Pfund zu geben. Sie hat eine Art Taschengeldkasse für jede von uns für unerwartete Ausgaben.
Ich bin sicher, dass in meiner zwanzig Pfund sein müssten.
Ich habe keine Ausgaben.« Nach einem Moment fuhr sie
fort: »Ich hätte es eigentlich wissen müssen, oder? Dass du
keinen Job hast, meine ich. Ich hätte dich schon bei deinem
ersten Besuch fragen müssen. Ich habe dich überhaupt nicht
über dich selbst befragt, weil ich so begierig war, mir die Geschichte mit Miranda von der Seele zu reden. Ich wollte unbedingt, dass du Ja sagst, dass du machst, worum ich dich
bitte, verstehst du?«
Sie nannte meine Schwester immer noch Miranda. In ihren Gedanken würde Miranda immer ihr Baby sein. Sie
wusste, dass dieses Baby eine neue Identität angenommen
hatte, doch in irgendeiner Ecke ihres Bewusstseins konnte
sie es nicht akzeptieren. Ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass sie versuchte, die Zeit zurückzudrehen. Aber das
schafft niemand.
»Mach dir keine Sorgen deswegen.« Ich konnte sehen,
dass sie müde war und Mühe hatte, sich zu konzentrieren.
»Ich komme wieder, wenn ich in Kew gewesen bin«, versprach ich ihr. »Danach unterhalten wir uns. Mit ein wenig
Glück bringe ich gute Neuigkeiten mit.« Ich erhob mich
und küsste sie auf die Stirn. Ihre Haut fühlte sich weich und
pergamenten an.
Sie hob eine Hand, um meine Wange zu streicheln, und
ihre Berührung war so leicht wie die einer Feder. »Geh zu
Schwester Helen«, sagte sie. »Ich werde ihr sagen, dass sie
dir das Geld geben soll.«
Ich dachte, dass Schwester Helen mir vielleicht Fragen wegen des Geldes stellen würde, doch alles, was sie sagte, als sie
mir die Banknoten übergab, war: »Es ist nicht nötig, dass Ihre
Mutter alles weiß, Fran. Wir werden ihr nichts über den Tod
von Mr Duke erzählen, und Sie werden wissen, wenn es sonst
noch etwas gibt, das Eva nicht erfahren muss.«
Ich machte mich auf den Rückweg nach London, und
zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich, selbst wenn es
mir gelang, die Wildes aufzuspüren, vielleicht nicht das finden würde, was meine Mutter erwartete. Und falls dem so
war – was würde ich dann tun?
An jenem Abend kam ein Typ namens Marty vorbei. Ich
kannte ihn aus meiner Zeit im Schauspielunterricht. Er hatte erfahren, dass ich nach einer Wohnung suchte, und er
wusste von einem besetzten Haus in Lambeth. Vielleicht gäbe es dort ein Zimmer für mich, aber versprechen könnte er
mir nichts.
Ich fuhr mit ihm zusammen hin, sodass er mich vorstellen konnte und den anderen sagen, dass ich in Ordnung
war. Es war ein großes altes Haus mit einem unübersehbaren Feuchtigkeitsproblem, das innen von oben bis unten lila
gestrichen war. Der Jugendliche, der uns öffnete, hatte die
bleiche Hautfarbe und den stieren Blick eines eingefleischten Junkies. Als er den Arm hob, um die Treppe hinaufzudeuten, glitt sein Hemdsärmel zurück und enthüllte die Einstichstellen und die Hämatome. Ich habe noch nie in einem
Haus gewohnt, in dem Drogen zugelassen gewesen wären.
Es hatte stets harte Regeln in dieser Hinsicht gegeben. Hinter einer Tür war ein erstklassiger Streit zwischen einem
Mann und einer Frau im Gange, die sich die derbsten Dinge
an die Köpfe warfen. Es konnte nur noch Sekunden dauern,
bis sie aufeinander losgingen. Hinter einer anderen Tür
weinte ein Baby in instinktiver Hoffnungslosigkeit. Es wusste, dass die Dinge auch in Zukunft nicht viel besser werden
würden, als sie im Augenblick standen.
Wie es der Zufall wollte, war ich zu spät, und das Zimmer
war bereits
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