Granger Ann - Varady - 04
Gestalt hin gehandelt. Mutter hatte
mir die Wahrheit erzählt, und die Wildes hatten gelogen,
alle beide, ohne mit der Wimper zu zucken. Am liebsten
hätte ich laut »Ich hab’s doch gleich gewusst!« gerufen. Ich
konnte mich gerade noch im Zaum halten.
Nichtsdestotrotz war Morgan aufgefallen, dass in mir etwas vorging, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie wirkte
plötzlich unsicher. »Wussten Sie, dass Ihre Mutter ein zweites Kind hatte?«
»Woher sollte ich wissen, was meine Mutter gemacht hat,
nachdem sie von uns fortgegangen war?« Ich riss mich zusammen. Wenn ich nicht sehr auf der Hut war, konnte ich alles verderben. »Warum erzählen Sie nicht einfach weiter?«,
schlug ich vor. »Sie schienen eben noch ganz begierig darauf.«
Sie bedachte mich mit einem zweifelnden Blick. »Nun ja,
Mrs Marks war ein wenig unsicher, ob sie ein so junges
Kind annehmen sollte, doch die Mutter befand sich in einer
verzweifelten Lage. Sie musste arbeiten gehen. Sie hatte
niemanden sonst, der sich um das Kind gekümmert oder sie
unterstützt hätte. Mrs Marks erinnert sich noch an den Namen des Babys, Miranda, weil es, wie sie sagt, so unglaublich
hübsch gewesen war. Doch dann, nach ein paar Wochen,
nahm Mrs Varady das Baby wieder aus der Krippe. Sie hatte
beschlossen, es zur Adoption freizugeben. Zumindest war
das der Grund, den sie Mrs Marks damals nannte.«
Morgans Stimme wurde hart. »Das Merkwürdige daran
ist, dass die zuständigen Behörden und sozialen Einrichtungen bisher keine Akte über dieses Kind gefunden haben. Es
gibt keinerlei Unterlagen, dass eine Miranda Varady zur
Adoption freigegeben worden wäre. Also überprüften wir
die Unterlagen der Krankenhäuser, und tatsächlich, Mrs Eva
Varady hatte ein Baby, ein Mädchen, das, falls es noch am
Leben ist, heute bald dreizehn Jahre alt sein müsste. Verstehen Sie, Fran? Erkennen Sie mein Problem? Zusätzlich zum
Mordfall Rennie Duke habe ich es plötzlich auch noch mit
einem verschwundenen Baby zu tun.« Sie lehnte sich zurück. »Haben Sie mir immer noch nichts zu sagen, Fran?«
»Nichts«, antwortete ich. »Absolut überhaupt nichts.
Trotzdem, danke für den Kuchen.«
Ich ging nach Hause, während ich über die neuen Informationen nachdachte und sie einsortierte. Die Euphorie angesichts des Wissens, dass die Wildes gelogen hatten, war verschwunden, und jetzt entstand nach und nach ein düsteres
Bild in meinem Kopf. Die Morgan hatte es zwar nicht ausgesprochen, doch das war auch gar nicht nötig. Die Bullen
nahmen an, dass das Baby Miranda Varady tot war. Sie vermuteten, dass meine Mutter dafür verantwortlich war. Verzweifelte Frauen, die ganz auf sich allein gestellt sind und
häufig auch noch unter postnatalen Depressionen leiden,
hatten schon früher schreckliche Dinge getan. Ich hätte all
das mit einem einzigen Satz richtig stellen können. Überprüfen sie die Familie Wilde, und Sie werden feststellen, dass Miranda Varady noch lebt. Ach so, ja, sie heißt heute Nicola
Wilde.
Hatte ich diesen Satz ausgesprochen? Natürlich nicht.
Doch ich musste dringend wieder mit meiner Mutter reden
und sie warnen. Wäre es nur der Tod von Clarence Duke
gewesen, den die Polizei untersuchte, hätten sie wahrscheinlich hingenommen, dass meine Mutter zu krank war, um
vernommen zu werden, und wohl nichts mit dem Fall zu
tun hatte. Doch wenn die Bullen glaubten, dass sie die Hand
beim Tod eines Kindes im Spiel gehabt hatte, dann würden
sie sich nicht so leicht abwimmeln lassen.
Die Wahrheit über Nicola Wilde war zunehmend schwer
zu verbergen. Vielleicht sah ich mich – zu meinem eigenen
Schutz – schon bald gezwungen, das Geheimnis der Wildes
preiszugeben. Ich konnte nicht vergessen, dass von allen
Personen, die von diesem Geheimnis wussten, eine, nämlich
meine Mutter, bald schon nicht mehr leben würde. Eine
andere war schon nicht mehr im Spiel: Rennie Duke, der
auf der richtigen Spur gewesen war. Warum sonst hätte er
Mrs Marks um eine Unterhaltung bitten sollen? Damit blieb
ich übrig, und ich hatte nicht erst das Gespräch mit Jerry
Wilde gebraucht, um zu erkennen, wie gefährlich mein Wissen für mich werden konnte. Meine Mutter hatte mir eine
tickende Zeitbombe in die Hand gedrückt.
Ich konnte erst am nächsten Morgen wieder nach Egham
fahren. Bis dahin würde ich der Spur folgen, die Janice Morgan mir an die Hand gegeben hatte – obwohl sie es wahrscheinlich nicht so sehen würde.
Ich kramte in meinen Taschen auf der
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