Granger Ann - Varady - 04
stellen, doch wir
erhalten nicht immer Antworten. So ist das Leben. Sie dürfen
Eva nicht zusetzen. Schließlich versuchen wir beide gemeinsam, die Polizei ebendaran zu hindern, nicht wahr?«
Ich sagte ihr einmal mehr, dass ich die Regeln kannte und
begriffen hatte. Ich wandte mich ab und wollte zum Zimmer meiner Mutter gehen, als Schwester Helen erneut
sprach.
»Fran? Wissen Sie, niemand ist vollkommen, und niemand wird allein deswegen vollkommen, weil er zufällig im
Sterben liegt. Wir lieben die Menschen im Leben, wie wir sie
im Tod lieben, mit all ihren Unzulänglichkeiten. Das ist das
Wesen der Liebe, Fran. Ohne Opfer bedeutet Liebe überhaupt nichts.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich liebe sie, und ich muss
einfach glauben, dass sie mich auf ihre eigene Weise ebenfalls liebt, ganz gleich, was vor vielen Jahren geschehen ist.
Ich kann nicht behaupten, dass ich glücklich darüber wäre,
aber ich komme zurecht.«
Meine Mutter streckte mir zur Begrüßung die Hand entgegen. Ich nahm sie, und sie drückte meine Finger schwach.
Ihr Bett stand noch immer beim Fenster, doch heute hatte
der Wettermann Regen geliefert, und die Scheiben waren
nass und behinderten die Aussicht.
»Mutter«, sagte ich. »Ich möchte tun, was richtig ist. Du
möchtest ebenfalls tun, was richtig ist, nicht wahr?«
»Aber sicher«, sagte sie. »Ich bringe die Dinge wieder in
Ordnung.«
»Nein, das tust du nicht.« Ich gab mir Mühe, freundlich
und sanft zu sprechen und mir meine Frustration nicht anmerken zu lassen. »Du rührst in alten Wunden und bringst
Angst über die Menschen.«
Sie antwortete auf ihre langsame, bedächtige und zuversichtliche Weise, die, wie ich gelernt hatte, bedeutete, dass
sie nicht einen Deut nachzugeben bereit war. »Ich bringe die
Dinge für mich in Ordnung.«
Schwester Helens Stimme klang mir in den Ohren. Das
war es, was sie mir versucht hatte zu sagen. Meine Mutter
war einer von jenen Menschen, die außer Stande waren, irgendetwas aus irgendeinem anderen als ihrem eigenen inneren Standpunkt aus zu sehen. Menschen wie sie beurteilen
einfach alles danach, wie es sie berührt, und niemals, welche
Auswirkungen es für andere haben mag. Selbst Liebe wird
von diesem Standpunkt aus beurteilt. Meine Mutter bezog
Trost aus der Tatsache, dass ich, indem ich ihren Wunsch
erfüllte und nach Nicola suchte, meine Liebe zu ihr bewies.
Sie war außer Stande zu erkennen, wie verzweifelt ich mich
nach einem Zeichen der Liebe von ihr sehnte. Was nicht bedeutete, dass sie mich nicht liebte. Es war nur, dass sie in einem ganz bestimmten Denkmuster verharrte, und sie war
das Zentrum dieses Musters. Ich, Dad, Großmutter Varady,
die Wildes, Nicola, jeder andere in ihrem Leben hatte sich
immer nur um sie gedreht wie Planeten, die die Sonne umkreisten.
Ich wusste jetzt, was sie von Nicola wollte. Es ging nicht
darum zu erfahren, wie sie heute aussah oder was sie tat und
welche Dinge sie mochte. Was sie von Nicola wollte, war ihre Liebe. Sie verlangte von mir, dass ich ihr die Liebe von
Nicola verschaffte, und das konnte ich nicht. Das konnte
niemand.
Ich konnte sie niemals dazu bringen, es so zu sehen wie
ich. Der bloße Versuch war sinnlos. Doch ich war sicher,
dass ihr Verstand hart und zäh war, trotz aller Schwäche ihres Körpers. Ich musste ihr erzählen, was die Polizei herausgefunden hatte, und das bedeutete auch, dass ich das Thema
erwähnen musste, das ich, solange ich bei ihr war, stets
vermieden hatte.
»Rennie Duke«, fing ich unbeholfen an.
Sie blinzelte, und ich bemerkte, dass ihre Augenlider
wimpernlos waren. Der Blick ihrer Augen war gehetzt. »Was
ist mit Rennie?«
»Ich glaube, er hat Erkundigungen über dich eingezogen
– über die Zeit vor vielen Jahren, bevor du ihn kennen gelernt hast. Nachdem du Dad verlassen hattest.«
Sie zog unter der Bettdecke die Knie an und schlang die
Arme in einer merkwürdig fetalen Haltung darum. »Dann
musst du verhindern, dass er damit weitermacht, Fran.«
Wieder ich. Zufällig hatte dieses Mal schon jemand anders
die Arbeit getan. Ich ließ diese Einzelheit aus und fuhr fort:
»Es ist so, Mutter. Duke hat die Dinge ein wenig aufgewühlt.
Er hat eine Mrs Marks gefunden.«
Jetzt sah sie verängstigt aus. »Unmöglich! Sie ist alt! Sie
kann unmöglich noch am Leben sein! Du musst irgendetwas falsch verstanden haben, Fran. Mrs Marks? Selbst wenn
Rennie sie gefunden hat, sie erinnert sich ganz bestimmt
nicht an mich!«
»Das weiß ich nicht, Mutter.
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