Grant County 03 - Dreh dich nicht um
noch einmal. »Lena?«
Lena brachte ein künstliches Lachen zustande. »Ich bin nur nervös.« Aus irgendeinem Grund wollte Lena etwas Gemeines sagen, etwas, was Dr. Rosen verletzte, damit sie sich wieder auf einer Ebene gegenüberstanden.
»Ich – « Lena brach ab. »Chief Tolliver erwartet Sie in einer halben Stunde in der Bibliothek.«
Jill Rosen sah sie ratlos an. Dreißig Minuten darauf zu warten zu erfahren, was mit ihrem Kind geschehen war, bedeuteten für eine Mutter wahrscheinlich eine Ewigkeit.
Lena sagte: »Tolliver weiß nichts von …« Sie machte eine Geste, die sie beide einschloss.
»Von der Therapie?«, fragte Jill Rosen, als wäre Lena nicht auf das Wort gekommen.
»Es tut mir leid.« Diesmal meinte es Lena ehrlich. Eigentlich hätte sie Jill Rosen trösten sollen, stattdessen hatte sie sich wie eine Verrückte aufgeführt. Jeffrey hatte zu Chuck gesagt, Lena würde ihre Sache gut machen, doch sie hatte innerhalb von fünf Minuten alles verpatzt.
Lena versuchte es noch einmal von vorn. »Es tut mir wirklich leid.«
»Sagen Sie mir, was passiert ist. Ich muss es wissen.«
Lena stellte den umgekippten Stuhl wieder hin, legte die Hände auf die Stuhllehne und hielt sich daran fest. »Es sieht so aus, als wäre er von der Brücke am Waldrand gesprungen. Eine Studentin hat ihn gefunden und die Polizei gerufen. Die Gerichtsärztin ist kurz danach gekommen und hat nur noch seinen Tod feststellen können.«
Jill Rosen atmete tief ein und hielt ein paar Sekunden die Luft an. »Den Weg nimmt er, wenn er zum Unterricht geht.«
»Über die Brücke?«, fragte Lena. Wahrscheinlich wohnten die Rosens in der Main Street, wo die meisten Lehrer ihre Häuser hatten.
»Ihm ist so oft das Fahrrad gestohlen worden«, sagte Jill Rosen. Lena nickte. Auf dem Campus wurden dauernd Fahrräder geklaut. Die College-Polizei hatte keine Ahnung, auf wessen Konto das ging.
Jill Rosen seufzte wieder, als ließe sie die Trauer in kleinen Dosen zu. Dann fragte sie: »Ging es schnell?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lena. »Ich glaube schon. Solche Sachen … es ist ganz bestimmt schnell gegangen.«
»Andy ist manisch-depressiv«, sagte Jill Rosen. »Er ist immer sensibel gewesen, doch sein Vater und ich …« Ihre Stimme erstarb, als wollte sie Lena nicht mehr anvertrauen. In Anbetracht ihres Ausbruchs vor fünf Minuten konnte ihr Lena das nicht verübeln.
Rosen fragte: »Hat er einen Brief hinterlassen?«
Lena holte den Zettel aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Jill Rosen zögerte, bevor sie ihn nahm.
»Das ist nicht von Andy«, erklärte Lena und zeigte auf die blutigen Fingerabdrücke, die Frank und Jeffrey auf dem Papier hinterlassen hatten. Lena war überrascht gewesen, dass Frank ihr den Brief für Andys Mutter mitgegeben hatte.
»Ist das Blut?«
Lena nickte, aber sie sagte weiter nichts. Sie würde es Jeffrey überlassen zu entscheiden, wie viel Information Andys Mutter bekam.
Jill Rosen setzte sich die Brille auf, die an einer Kette um ihren Hals hing. Obwohl Lena sie nicht darum gebeten hatte, las sie laut vor: »Ich kann nicht mehr. Ich liebe dich, Mama. Andy.«
Die ältere Frau atmete tief ein, als könnte sie mit der Luft auch ihre Gefühle unter Verschluss halten. Langsam nahm sie die Brille ab und legte den Abschiedsbrief auf den Tisch. Sie starrte ihn an, als ob sie ihn immer noch lesen könnte. »Fast dasselbe hat er beim letzten Mal auch geschrieben.«
»Wann war das?«, fragte Lena mit erwachendem Polizeiinstinkt.
»Am 2. Januar. Er hat sich den Arm aufgeschnitten. Ich habe ihn gefunden, bevor er zu viel Blut verloren hatte, aber …« Sie stützte den Kopf auf die Hände und starrte den Brief an. Dann berührte sie ihn mit den Fingerspitzen, als berührte sie ein Stück von ihrem Sohn – das letzte Stück, das ihr geblieben war.
»Ich muss den Brief wieder mitnehmen«, sagte Lena, obwohl Jeffrey und Frank seinen Wert als Beweisstück schon zerstört hatten.
»Oh.« Jill Rosen zog die Hand zurück. »Bekomme ich ihn später zurück?«
»Ja, wenn wir mit allem fertig sind.«
»Oh«, sagte Jill Rosen noch einmal. Sie begann an der Kette ihrer Brille zu zupfen. »Kann ich ihn sehen?«
»Es wird erst eine Autopsie durchgeführt.«
Jill Rosen sah überrascht aus. »Warum? Haben Sie etwas Verdächtiges gefunden?«
»Nein«, sagte Lena, obwohl sie sich nicht so sicher war.
»Es ist reine Routine, weil es keine Zeugen für den Tathergang gibt.«
»Ist er schwer …
Weitere Kostenlose Bücher