Grant County 03 - Dreh dich nicht um
entstellt?«
»Nein.« Lena wusste, dass das eine subjektive Einschätzung war. Sie dachte daran, wie sie ihre Schwester letztes Jahr im Leichenschauhaus gesehen hatte. Obwohl Sara sie gewaschen hatte, waren ihr die blauen Flecken und kleinen Schnitte in Sibyls Gesicht wie tausend Wunden erschienen.
»Wo ist er jetzt?«
»Im Leichenschauhaus. In ein oder zwei Tagen kann er vom Beerdigungsinstitut abgeholt werden.«
»Er wollte verbrannt werden«, sagte Jill Rosen. »Aber ich glaube nicht, dass ich das ertrage. Ich glaube nicht, dass ich zulassen kann …« Sie schüttelte den Kopf. Als sie die Hand an den Mund legte, bemerkte Lena den Ehering.
»Möchten Sie, dass ich Ihren Mann benachrichtige?«
»Brian ist nicht da«, sagte sie. »Er arbeitet an einem Stipendienprojekt.«
»Er ist auch am College?«
»Ja.« Sie runzelte die Stirn, als müsse sie gegen ihre Gefühle ankämpfen. »Andy arbeitete für ihn, er half ihm ein bisschen. Wir dachten, es wäre gut für ihn – « Sie bemühte sich immer noch, das Schluchzen zu unterdrücken, doch sie war am Ende und brach in Tränen aus.
Lena klammerte sich an die Stuhllehne und beobachtete die andere Frau. Jill Rosen weinte leise, die Lippen geöffnet, doch kein Laut drang heraus. Sie presste sich die Hand gegen die Brust, die Augen fest geschlossen. Dicke Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. Ihre mageren Schultern wölbten sich, als sie das zitternde Kinn auf die Brust sinken ließ.
Lenas Drang fortzulaufen wurde immer übermächtiger. Selbst vor der Vergewaltigung war sie nicht gut darin gewesen, Menschen zu trösten. Die Vorstellung, dass andere ihre Hilfe benötigten, war ihr auf sonderbare Weise unerträglich, so als müsste sie einen Teil von sich selbst geben, um Trost zu spenden. Sie wollte nach Hause, wollte sich den Geschmack der Angst aus dem Mund waschen. Lena musste einen Weg finden, zu Kräften zu kommen, bevor sie sich wieder unter Menschen wagen konnte. Vor allem, bevor sie Jeffrey entgegentrat.
Offenbar erriet Jill Rosen Lenas Gefühle. Sie wischte sich die Tränen ab, ihr Ton war jetzt kühler. »Ich muss meinen Mann anrufen«, sagte sie. »Würden Sie mich bitte einen Moment allein lassen?«
»Natürlich«, sagte Lena erleichtert. »Wir sehen uns dann später in der Bibliothek.« Als sie bereits die Hand auf der Türklinke hatte, zögerte sie. Ohne die Therapeutin anzusehen, sagte sie: »ich weiß, ich habe nicht das Recht, Sie das zu
bitten – « Lena wusste, bei Jeffrey wäre sie endgültig unten durch, wenn er erfuhr, wie sie sich heute hier verhalten hatte.
Jill Rosen schien zu erraten, was Lena wollte. »Nein, dazu haben Sie nicht das Recht«, sagte sie gereizt.
Als Lena die Klinke herunterdrückte, spürte sie im Rücken Jill Rosens Blick. Sie fühlte sich in der Falle, doch sie zwang sich zu warten.
Jill Rosen erklärte sich zu einer Art Kompromiss bereit.
»Wenn Sie nüchtern bleiben, behalte ich es für mich.«
Lena schluckte, sie konnte den Whiskey förmlich schmecken, den sie während der letzten Minuten herbeigesehnt hatte. Schweigend verließ sie den Raum.
Lena setzte sich vor dem Ausgabeschalter der Bibliothek an einen leeren Tisch und sah dabei zu, wie Chuck sich bei Nan Thomas, der Bibliothekarin, blamierte. Abgesehen davon, dass Nan mit ihren straßenköterbraunen Haaren und der dicken Brille nicht gerade eine Trophäe war, wusste Lena zufällig, dass sie lesbisch war. Vier Jahre lang waren Nan und Sibyl ein Paar gewesen. Die zwei hatten bis zu dem Tag, als Sibyl ermordet wurde, zusammengelebt.
Um auf andere Gedanken zu kommen, sah sich Lena in der Bibliothek um und betrachtete die Studenten, die an den langen Tischen in der Mitte des Saales arbeiteten. Prüfungen standen bevor, und so war die Bibliothek auch am Sonntag ziemlich gut besucht. Ansonsten waren heute nur noch die Cafeteria und die Beratungsstelle offen.
Im Vergleich mit anderen Bibliotheken war die am GIT ziemlich beeindruckend. Da es hier keine Football-Mannschaft gab, stand mehr Geld für die anderen Fakultäten zur Verfügung. Trotzdem fand Lena, eine Sporteinrichtung wäre die bessere Investition gewesen. Vor fünf Jahren hatten zwei Professoren hier ein Medikament erfunden, irgendeine magische Spritze oder Pille, von der Schweine innerhalb kürzester Zeit fett wurden. Die Bauern waren von der Entdeckung begeistert gewesen, und am Eingang der Bibliothek hing das gerahmte Titelbild einer Ausgabe von Schweine- und Geflügelmast heute, auf dem die
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