Grant County 03 - Dreh dich nicht um
Angst, die sie überfallen hatte, als sie zusehen musste, wie ihr die langen Zimmermannsnägel ins Fleisch getrieben wurden.
Bevor er es auf Lena abgesehen hatte, hatte dasselbe Monster Sibyl umgebracht, Lenas Zwillingsschwester, und die Tatsache, dass man die Bestie gefasst hatte, tröstete Lena nicht im Geringsten. In ihren Albträumen tauchte der Schänder immer wieder auf, und häufig wachte sie nachts in kaltem Schweiß auf, die Fingernägel ins Laken gekrallt, und spürte seine Gegenwart im Zimmer. Noch schlimmer aber waren die Träume, die keine Albträume waren. Wenn er sie zärtlich berührte, wenn ihre Haut kribbelte und sie erregt und verwirrt aufwachte, wenn ihr Körper auf die erotischen Bilder in ihrem Unterbewusstsein reagierte. Sie wusste, die Drogen, die er ihr eingeflößt hatte, hatten ihren Körper manipuliert, doch Lena verfluchte sich für ihre eigene Reaktion.
Manchmal bedeckte die Erinnerung an seine Berührungen ihren Körper wie feine Spinnweben, und sie zitterte so stark, dass sie heiß duschen musste, um wieder das Gefühl zu haben, ihre Haut gehörte ihr.
Lena war sich nicht sicher, ob es Verzweiflung oder Dummheit war, die sie vor einem Monat zu einem Anruf bei der psychologischen Beratungsstelle auf dem Campus bewogen hatte. Jedenfalls waren die dreieinhalb Sitzungen ein Riesenfehler gewesen. Mit einer Fremden darüber zu sprechen, was passiert war – nicht dass es überhaupt so weit gekommen wäre –, war einfach zu viel. Es gab Dinge, über die konnte man nicht reden. Mitten in einer besonders schmerzhaften Sitzung war Lena aufgestanden, hatte die Praxis verlassen und war nicht wiedergekommen. Jedenfalls bis heute, wo sie ihre ehemalige Therapeutin aufsuchen musste, um ihr zu sagen, dass ihr Sohn tot war.
»Adams«, sagte Chuck und warf einen Blick über die Schulter, »kennen Sie die Mieze?«
Chuck meinte die Therapeutin. Für ihn war jede Frau entweder eine »Mieze« oder eine »Ziege«, je nachdem, ob er sich einbildete, dass sie unter Umständen mit ihm schlafen würde oder nicht. Lena hoffte inständig, dass er sie zu den Ziegen zählte, doch manchmal hatte sie den Verdacht, Chuck hielt es für eine Frage der Zeit, bis sie sich ihm zu Füßen warf.
»Nein, kennen tu ich sie nicht«, antwortete sie und setzte vorsichtshalber nach: »Nur vom Sehen auf dem Campus.«
Er sah sie noch einmal an, doch Chucks Menschenkenntnis war in etwa so ausgeprägt wie sein Charme.
»Rosen«, sagte er. »Klingt jüdisch, finden Sie nicht?«
Lena zuckte die Schultern; sie hatte nie darüber nachgedacht. Am GIT war das Publikum sehr gemischt, und abgesehen von den ein, zwei Arschlöchern, die kürzlich beschlossen hatten, überall ihre rassistischen Parolen hinzusprayen, ging es auf dem Campus relativ tolerant zu.
»Hoffentlich ist sie nicht – «, Chuck tippte sich an die Stirn. Natürlich ging er davon aus, dass jeder, der in einer psychologischen Praxis arbeitete, selbst einen Vogel hatte.
Lena sparte sich die Antwort. Stattdessen überlegte sie fieberhaft, ob man sie in der Praxis wieder erkennen würde. Sonntags war die Praxis bis um zwei geöffnet, doch Dr. Rosen hatte eingewilligt, Lena außerhalb der Praxiszeit zu empfangen, wahrscheinlich wegen der traurigen Berühmtheit, die Lenas Fall vor einem Jahr erlangt hatte.
»Da sind wir«, sagte Chuck am Eingang der Praxis.
Lena erwischte gerade noch die Tür, bevor sie ihr vor der Nase zuschlug. Sie folgte Chuck ins überfüllte Wartezimmer.
Wie bei den meisten Colleges fehlte in den medizinischen Einrichtungen des GIT an allen Ecken und Enden das Geld. Und gerade in Georgia, wo das aus Lotteriegeldern finanzierte Hope-Stipendium jedem, der einen Stift halten konnte, ein Studium ermöglichte, gab es jede Menge College-Studenten, die den Leistungsdruck und den emotionalen Stress, von zu Hause fort zu sein, nicht aushielten. Da das GIT ein technisches College war, bestanden die Studenten ohnehin hauptsächlich aus Strebern und Mathe-Heinis. Solche auf Höchstleistungen fixierten Persönlichkeiten ertrugen Fehlschläge nur schwer. Unter dem Andrang der Studenten platzte die psychologische Beratungsstelle aus allen Nähten. Denn wenn deren Krankenversicherung auch nur ansatzweise der von Lena ähnelte, dann blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich an die College-Einrichtung zu wenden.
Chuck zerrte sich die Hose hoch und trat an die Anmeldung. Fast konnte Lena seine Gedanken lesen, als er sich im Raum umsah – die meisten
Weitere Kostenlose Bücher