Grant County 03 - Dreh dich nicht um
geht um Ihren Sohn.«
»Andy?«, fragte Dr. Rosen und sank in den Stuhl wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen war. Sie saß mit geradem Rücken da, die Hände im Schoß verschränkt, vollkommen beherrscht, doch in ihrem Blick lag ein Anflug von Panik. Noch nie in ihrem Leben hatte Lena den Ausdruck eines Menschen so klar lesen können. Diese Frau hatte schreckliche Angst.
»Ist er – « Rosen räusperte sich. Tränen traten ihr in die Augen. »Hat er Schwierigkeiten?«
Lena dachte an Chuck. Er stand noch auf dem Flur, die Hände in den Hosentaschen, als sähe er sich eine Talkshow an. Bevor Chuck protestieren konnte, schlug Lena ihm die Tür vor der Nase zu.
»Tut mir leid.« Lena setzte sich und legte die Hände auf den Tisch. Die Entschuldigung bezog sich auf Chuck, doch Jill Rosen fasste sie anders auf.
»Was?« Ihre Stimme war flehend, voller Verzweiflung.
»Ich meinte – «
Plötzlich, ohne Vorwarnung, griff Jill Rosen über den Tisch und packte Lenas Hände. Lena zuckte zurück, doch die Therapeutin merkte es nicht. Seit der Vergewaltigung war für Lena die Vorstellung, angefasst zu werden, unerträglich. Ihr brach erneut der Schweiß aus, und sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Jill Rosen fragte: »Wo ist er?«
Lenas Knie begannen zu zittern, ihr Fuß hüpfte unkontrollierbar auf und ab. Sie brachte nur ein Flüstern zustande.
»Wenn Sie sich bitte ein Foto ansehen würden.«
»Nein«, rief Rosen. Sie umklammerte Lenas Hände, als hinge sie über einem Abgrund. »Nein.« Mühsam befreite Lena ihre rechte Hand und zog ein Polaroidfoto aus der Tasche. Sie hielt das Foto hoch, doch die Therapeutin wandte den Kopf ab und schloss wie ein Kind die Augen.
»Dr. Rosen«, begann Lena. Dann änderte sie ihren Ton: »Jill, ist das Ihr Sohn?«
Sie blickte Lena an, nicht das Foto. Lena sah Hass in ihren Augen glimmen wie weiß glühende Kohle. »Sagen Sie mir, ob er es ist«, wiederholte sie. Sie wollte es endlich hinter sich bringen.
Schließlich sah Jill Rosen sich das Polaroidfoto an. Ihre Nasenflügel bebten, mit zusammengepressten Lippen kämpfte sie gegen die Tränen. Lena sah an ihrer Reaktion, dass der tote Junge tatsächlich ihr Sohn war, doch Jill Rosen ließ sich Zeit. Sie starrte das Foto an und versuchte, mit dem Kopf zu akzeptieren, was ihre Augen sahen. Unbewusst streichelte sie mit dem Daumen die Narbe auf Lenas Handrücken. Es fühlte sich an wie Sandpapier, und Lena biss die Zähne aufeinander, um nicht laut zu schreien.
Nach einer Ewigkeit fragte Jill Rosen: »Wo?«
»Wir haben ihn auf der Westseite des Campus gefunden«, sagte Lena. Der Impuls, die Hand wegzuziehen, war so stark, dass ihr Arm zitterte.
Ohne etwas davon zu bemerken, flüsterte Jill Rosen: »Was ist passiert?«
Lena fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ihr Mund war staubtrocken. »Er ist gesprungen«, sagte sie und versuchte, regelmäßig zu atmen. »Von der Brücke.« Sie zögerte, dann fort sie fuhr: »Wir glauben, dass er – «
»Was?« Jill Rosen klammerte sich fester an Lenas Hand.
Plötzlich hielt Lena es nicht mehr aus. »Bitte«, flehte sie. Jill Rosen verstand nicht, und Lena fühlte sich umso mehr in die Ecke getrieben. Mit jedem Wort wurde ihre Stimme schriller: »Lassen Sie meine Hand los!«
Erschrocken zog sich Jill Rosen zurück. Lena sprang auf, warf den Stuhl um, stieß rückwärts gegen die Tür.
Jill war noch blasser geworden. »Entschuldigung.«
Gegen die Tür gelehnt rieb Lena die Hand an ihrem Bein, als müsste sie Schmutz abwischen. »Schon okay«, sagte sie mit klopfendem Herzen. »Tut mir leid.«
»Ich hätte daran denken müssen …«
»Bitte.« Lena hörte zu reiben auf und faltete stattdessen die Hände, als wäre ihr kalt.
»Lena«, Jill setzte sich auf, ohne aufzustehen. »Alles ist gut. Hier sind Sie in Sicherheit.«
»Ich weiß«, sagte Lena, doch ihre Stimme war leise, der bittere Geschmack der Angst immer noch in ihrem Mund.
»Alles in Ordnung«, behauptete sie, obwohl sie immer noch die Hände rang. Sie sah nach unten, drückte den Daumen gegen das Mal in ihrer Handfläche, als ließe es sich abrubbeln. »Alles in Ordnung.«
»Lena …«, begann Jill noch einmal, doch sie sprach den Gedanken nicht aus.
Lena konzentrierte sich auf ihre Atmung und wurde ruhiger. Sie musste sich zwingen, nicht mehr an den Narben herumzukratzen, und steckte die Hände unter die Achseln.
Sie benahm sich wie eine Irre. Solche Tics hatten Geisteskranke.
Jill Rosen begann
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