Grant County 03 - Dreh dich nicht um
Universitätsklinik. Von der Emory University, Saras Alma Mater, und dem Morehouse College kam ein stetiger Strom von Assistenzärzten. Die Notaufnahme war unter Studenten heiß begehrt, da das Grady als die beste Schule für Unfallmedizin in ganz Georgia galt. Vor fünfzehn Jahren hatte Sara mit Händen und Füßen um ihren Platz in der Pädiatrie gekämpft. Dort hatte sie in einem Jahr mehr gelernt als viele Ärzte in ihrem ganzen Leben. Als sie vor zwölf Jahren von Atlanta zurück nach Grant County gezogen war, hatte Sara nicht gedacht, sie würde das Grady je wieder sehen, vor allem nicht unter solchen Umständen.
»Da kommt jemand«, sagte der alte Mann, der neben Sara saß, und die Wartenden – es waren mindestens dreißig Leute im Wartezimmer – blickten die Krankenschwester erwartungsvoll an.
»Ms. Linton?«
Saras Herz klopfte, für einen Sekundenbruchteil dachte sie, ihre Mutter sei endlich angekommen. Sie stand auf und legte die Zeitschrift auf ihren Stuhl.
»Ist sie schon aus dem OP?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Die Chirurgin hatte gesagt, die Operation würde mindestens vier Stunden dauern – nach Saras Erfahrung noch eine zurückhaltende Einschätzung.
»Nein«, sagte die Schwester und führte Sara zum Schwesternzimmer. »Da ist einen Anruf für Sie.«
»Meine Eltern?«, fragte Sara laut. Im Gang wimmelte es von Menschen; Ärzte und Schwestern, die sich geschäftig den Weg durch die Menge bahnten bei dem verzweifelten Versuch, die stets wachsende Zahl der Patienten in den Griff zu bekommen.
»Er sagt, er sei von der Polizei.« Die Schwester drückte ihr den Hörer in die Hand und sagte noch: »Machen Sie’s kurz. Auf dieser Leitung dürfen wir eigentlich keine privaten Anrufe annehmen.«
»Danke.« Sara nahm das Telefon, lehnte sich gegen den Tresen des Schwesternzimmers und versuchte, nicht im Weg zu stehen.
»Jeffrey?«, fragte sie.
»Hallo.« Er klang so gestresst, wie sie sich fühlte. »Ist sie schon aus dem OP?«
»Nein.« Sara sah den Gang hinauf zur Tür der Chirurgie. Immer wieder hatte sie daran gedacht, einfach hineinzumarschieren und selbst nach ihrer Schwester zu sehen, aber neben der Tür stand ein Wachmann, der seinen Job ziemlich ernst zu nehmen schien.
»Sara?«
»Ja.«
»Was ist mit dem Baby?«
Saras Kehle zog sich zusammen. Sie konnte hier nicht darüber sprechen. Nicht am Telefon. Sie fragte: »Hast du irgendwas rausgefunden?«
»Ich habe mit Jill Rosen gesprochen, der Mutter des Toten. Sie konnte mir nicht viel sagen. Im Wald haben wir eine Kette mit einem Davidstern gefunden, sie hat dem Jungen gehört.«
Als Sara nicht antwortete, fuhr Jeffrey fort. »Andy Rosen war entweder vorher im Wald, oder es hat ihm jemand die Kette abgenommen und ist damit in den Wald gegangen.«
Sara zwang sich zu antworten. »Was hältst du für wahrscheinlicher?«
»Ich weiß es nicht. Brad hat gesehen, wie Tessa auf dem Weg den Hügel hinauf eine weiße Plastiktüte aufgehoben hat.«
»Irgendwas war da in ihrer Hand«, erinnerte sich Sara.
»Könnte es sein, dass sie aus irgendeinem Grund Müll gesammelt hat?«
Sara versuchte nachzudenken.
»Brian sagt, genauso hätte es ausgesehen. Als hätte sie eine Tüte gefunden und angefangen, Müll aufzusammeln.«
»Könnte sein«, sagte Sara verwirrt. »Sie hat sich über die Leute aufgeregt, die überall ihren Müll rumliegen lassen. Vielleicht.«
»Vielleicht hat sie auf dem Weg den Hügel hinauf was gefunden und in die Tüte gesteckt? Wir haben den Davidstern des Opfers gefunden, aber das war tiefer im Wald.«
»Wenn Tessa etwas aufgehoben hat, würde das bedeuten, dass uns jemand beobachtet hat, während wir bei dem Toten standen. Wie heißt er nochmal – Andy?«
»Andy Rosen«, bestätigte Jeffrey. »Hast du immer noch das Gefühl, da ist was faul?«
Sara wusste nicht, was sie antworten sollte. Dass sie zu Andy Rosens Leiche gerufen worden war, schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wie der Junge ausgesehen hatte.
»Sara?«
Sie sagte ihm die Wahrheit: »Ich weiß es nicht mehr.«
»Übrigens hattest du Recht damit, dass er es schon einmal versucht hat. Seine Mutter hat es uns bestätigt. Hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«
»Ein Selbstmordversuch und ein Abschiedsbrief«, sagte Sara. Normalerweise reichten diese beiden Faktoren aus, um einen Tod als Selbstmord zu deklarieren, es sei denn, bei der Obduktion tauchten neue Hinweise auf. »Wir könnten ein
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