Grant County 03 - Dreh dich nicht um
vor. »Sie haben im selben Labor gearbeitet.«
»Richard ist ein Arschloch.«
»Er war sehr gut zu Sibyl.«
»Sibyl konnte auf sich selbst aufpassen«, gab Lena zurück, auch wenn sie beide wussten, dass das nicht ganz stimmte. Sibyl war blind gewesen. Auf dem Campus hatte ihr Richard die Augen ersetzt und ihr Leben sehr viel leichter gemacht.
Nan wechselte das Thema. »Ich wünschte, du würdest wegen der Versicherungssumme mit dir reden lassen.«
»Nein«, Lena schnitt ihr das Wort ab. Sibyl hatte über das College eine Lebensversicherung abgeschlossen. Die Begünstigte war Nan, und seit sie den Scheck eingelöst hatte, versuchte sie, Lena die Hälfte davon zu geben.
»Sibyl wollte, dass du das Geld bekommst«, sagte Lena zum tausendsten Mal.
»Sie hatte nicht mal ein Testament«, erwiderte Nan. »Sie dachte nicht gern an den Tod und hatte erst recht nichts für den Fall geplant. Du weißt doch, wie sie war.«
Lena sprangen die Tränen in die Augen.
Nan fuhr fort: »Der einzige Grund für die Versicherung war, dass sie in dem Versicherungspaket des College eingeschlossen war. Und meinen Namen hat sie nur eingetragen, weil – «
»Weil sie wollte, dass das Geld für dich ist«, beendete Lena den Satz. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Im letzten Jahr hatte sie so viel geweint, dass es ihr in der Öffentlichkeit nicht einmal mehr peinlich war.
»Sie hätte nie gewollt, dass du für Chuck Gaines arbeitest«, insistierte Nan. »Das hätte sie fürchterlich gefunden.«
»Ich bin auch nicht besonders scharf drauf«, gab Lena zu. Bis jetzt hatte sie das nur Jill Rosen gestanden. »Aber es muss im Moment sein, so lange, bis ich entscheide, was ich mit meinem Leben anstelle.«
»Du könntest anfangen zu studieren.«
Lena lachte. »Für die Schulbank bin ich ein bisschen zu alt.«
»Sibby hat immer erzählt, du würdest lieber mitten im August Marathon laufen, als zehn Minuten in einem klimatisierten Klassenzimmer zu sitzen.«
Lena lächelte, als sie an Sibyls Stimme dachte. Manchmal funktionierte die Erinnerung wie ein Schalter in ihrem Gehirn, mit dem sie etwas Schlechtes abschalten und etwas Gutes einschalten konnte.
Nan sagte: »Kaum zu glauben, dass es ein Jahr her ist.«
Lena starrte aus dem Fenster. Seltsam, dass sie heute so mit Nan sprechen konnte. Wenn es nicht wegen Sibyl gewesen wäre, hätte sich Lena von einer Person wie Nan Thomas lieber fern gehalten.
»Ich habe heute Morgen an sie gedacht«, sagte sie. Die Angst in Sara Lintons Augen, als ihre Schwester in den Helikopter geschoben wurde, hatte Lena tief berührt. »Sibyl hat diese Jahreszeit geliebt.«
»Sie ist so gern im Wald spazieren gegangen«, pflichtete Nan bei. »Ich habe immer versucht, am Freitag früher Schluss zu machen, damit wir noch spazieren gehen konnten, bevor es dunkel wurde.«
Lena schluckte. Sie fürchtete, laut zu schluchzen, falls sie den Mund aufmachte.
»Egal«, sagte Nan und legte die Hände flach auf den Tisch.
»Ich sollte mal lieber anfangen, die neuen Bücher zu katalogisieren, bevor Chuck Gaines zurückkommt und wieder mit mir essen gehen will.«
Auch Lena stand auf. »Warum sagst du ihm nicht einfach, dass du lesbisch bist?«
»Damit er sich daran aufgeilt? Nein, danke.«
Lena konnte das gut verstehen. Sie mochte die Vorstellung auch nicht, dass Chuck Gaines die ganzen Details ihrer Vergewaltigung in der Zeitung gelesen hatte.
»Außerdem«, sagte Nan, »ein Typ wie der meint, es kann nur einen Grund geben, warum ich ihn nicht leiden kann – weil ich eine Lesbe bin. Weil Lesben Männer hassen.« Nan lehnte sich verschwörerisch zu ihr herüber. »Dabei hassen wir weiß Gott nicht alle Männer. Wir hassen nur ihn.«
Lena schüttelte den Kopf. Sie dachte, wenn das das Kriterium wäre, dann wäre wohl jede Frau auf dem Campus eine Lesbe.
VIER
D as Grady Hospital war eine der besten Unfallkliniken im Land, doch unter den Bewohnern von Atlanta war es berüchtigt. Unter der Direktion der Fulton-DeKalb Hospital Authority war das Grady nicht nur eines der letzten öffentlichen Krankenhäuser der Region, sondern auch die landesweit führende Kapazität für Brandverletzungen, das modernste HIV/AIDS-Zentrum und die örtliche Vorsorgestelle für Risikomütter und Kleinkinder. Kam man jedoch mit einer Magenverstimmung oder Kopfschmerzen hierher, musste man mit mindestens zwei Stunden Wartezeit rechnen, bis man überhaupt einen Arzt zu Gesicht bekam.
Das Grady war eine
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