Grant County 03 - Dreh dich nicht um
das Gewitter wartete und den Kindern einschärfte, alle Kerzen auszublasen, bevor sie ins Bett schlüpften.
In der Notaufnahme winkte Sara der Nachtschwester und Matt DeAndrea zu, Hares Urlaubsvertretung. Seit dem Sommer, als sie in die Pubertät kam, war Sara nicht mehr so froh über die Abwesenheit ihres Cousins gewesen.
»Wie geht’s der Familie?«, fragte Matt, ohne nachzudenken, bis ihm einfiel, dass Floskeln nicht angebracht waren. Er errötete.
»Schon gut«, Sara zwang sich zu einem Lächeln. »Es geht einigermaßen. Danke der Nachfrage.«
Sara nickte ihm müde zu und lief über den Flur zur Treppe ins Untergeschoss.
Sara hatte noch nie das Provinzkrankenhaus und das Grady Hospital in Atlanta miteinander verglichen, doch jetzt sprangen ihr die Parallelen ins Auge. Das kleine Krankenhaus war zwar vor ein paar Jahren renoviert worden, doch die Leichenhalle war noch original dreißiger Jahre mit den hellblauen Fliesen an den Wänden und dem braun und grün karierten Linoleum auf dem Boden. An der Decke waren unzählige Flecken von Wasserschäden, frisch gestrichene helle Flecken standen in scharfem Kontrast zum hellgrauen Putz. Das Sirren des Kühltruhenkompressors und das Brummen der Klimaanlage ergaben ein monotones Hintergrundrauschen, das Sara kaum mehr wahrnahm.
Carlos stand mit gekreuzten Armen vor dem Keramiktisch, der in der Mitte des Raums im Boden verankert war. Er war ein netter Kerl mit einem starken spanischen Akzent, an den sich Sara erst hatte gewöhnen müssen. Er sprach nicht viel, und wenn, dann nuschelte er. Carlos machte die Drecksarbeit, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, und dafür wurde er gut bezahlt. Sonst wusste Sara nicht viel von ihm. In all den Jahren, die er hier arbeitete, hatte er Sara nie etwas von sich erzählt und sich nie über die Arbeit beschwert. Selbst wenn es nichts zu tun gab, fand er immer irgendeine Aufgabe, wie den Boden zu wischen oder die Kühlschränke zu putzen. Sie war überrascht, ihn müßig herumstehen zu sehen, als sie jetzt die Leichenhalle betrat. Anscheinend hatte er auf sie gewartet.
»Carlos?«, fragte sie.
»Ich arbeite nie wieder für Dr. Brock«, brummte er. Sie merkte, dass es ihm ernst war.
Nicht nur die Länge des Satzes überraschte sie, sondern auch die Vehemenz, mit dem er ihn vorgebracht hatte.
Vorsichtig fragte sie: »Ist irgendetwas vorgefallen?«
Carlos sah ihr direkt in die Augen. »Er ist sehr seltsam. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Sara fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte Angst gehabt, er würde kündigen.
»In Ordnung, Carlos«, sagte sie. »Tut mir leid, dass er dich verärgert hat.«
»Er hat mich nicht verärgert«, sagte er.
»Na gut.« Sara nickte und hoffte, das wäre damit erledigt. Sie verteidigte Dan Brock nun schon seit ihrem ersten Schultag, als Chuck Gaines ihn in einem schrecklichen Wutanfall von der Schaukel geschubst hatte. Brock war weniger seltsam als liebesbedürftig, eine Eigenschaft, die in der Grundschule – wo das Faustrecht regiert – nicht besonders gut ankam. Dank Cathy und Eddie hatte Sara nie der Bestätigung ihrer Kameraden bedurft, und es hatte ihr nie etwas ausgemacht, sich im Niemandsland zwischen den Bewunderten und den Gehänselten zu bewegen. Sie war die Beste in der Klasse gewesen, und ihre Größe, ihr rotes Haar und ihr hoher IQ hatten ihr immer Respekt verschafft. Brock dagegen hatte bis zu High School leiden müssen. So lange, bis die Rabauken dann kapiert hatten, dass Brock, egal wie fies sie zu ihm waren, immer nett blieb.
»Dr. Linton?« Trotz ihrer zahlreichen Aufforderungen nannte Carlos sie niemals Sara.
»Ja?«
»Es tut mir leid wegen ihrer Schwester.«
Sara presste die Lippen zusammen und nickte dankbar.
»Fangen wir mit dem Mädchen an«, sagte sie. Am besten, sie brachten den schwierigeren Fall hinter sich. »Hast du Fotos und Röntgenaufnahmen gemacht?«
Er nickte kurz, ohne den Zustand der Leiche zu kommentieren. Er war immer professionell, und Sara schätzte die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Beruf ausübte.
Sie ging in ihr Büro am Ende der Halle, von dem aus sie den Saal durch ein Fenster überblicken konnte. Sie nahm das Telefon und tippte die Nummer ihres Vaters ein.
Cathy nahm ab, noch bevor es tutete. »Sara?«
»Wir sind gerade angekommen«, antwortete sie. Ihre Mutter klang besorgt; wahrscheinlich hätte sie früher anrufen sollen.
»Habt ihr schon was herausgefunden?«
»Noch nicht«, erklärte Sara. In der Halle schob Carlos eine
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