Grant County 05 - Gottlos
aufschneiden müssen wie ein Stück Obst. Der Schädel wäre noch weich, die Augen und der Mund dunkle Flecken unter hauchdünner Haut. Fälle wie dieser ließen sie ihre Arbeit hassen.
«Monate? Wochen?», hakte Lena nach.
Sara wusste es nicht. «Ich muss sie erst untersuchen.»
«Doppelmord», bemerkte Jeffrey.
«Nicht unbedingt», erinnerte ihn Sara. Je nachdem, welche Partei am lautesten schrie, änderten die Politiker quasi täglich die Gesetze zum Schutz ungeborenen Lebens. Glücklicherweise hatte Sara noch nie damit zu tun gehabt. «Ich muss mich bei der Staatsanwaltschaft erkundigen.»
«Warum?», fragte Lena, und ihre Stimme klang dabei so seltsam, dass Sara sich zu ihr umdrehte. Lena starrte das Röntgenbild an, als hätte alles andere keine Bedeutung mehr.
«Es wird nicht mehr an der Lebensfähigkeit festgemacht», erklärte Sara und wunderte sich, dass Lena es so genau wissen wollte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Lena viel mit Kindern am Hut hatte. Andererseits wurde Lena älter, und vielleicht tickte nun auch ihre biologische Uhr.
Lena wies mit dem Kopf auf das Bild, die Arme eng vor der Brust verschränkt. «War es lebensfähig?»
«Noch lange nicht», sagte Sara, dann berichtigte sie sich: «Ich habe von Föten gehört, die nach dreiundzwanzig Wochen zur Welt kamen und am Leben erhalten wurden, aber das ist äußerst ungewöhnlich –»
«Im zweiten Drittel der Schwangerschaft», unterbrach Lena.
«Ja, richtig.»
«Nach dreiundzwanzig Wochen?», wiederholte Lena. Sie schluckte sichtbar, und Sara und Jeffrey tauschten einen Blick.
Er zuckte die Schultern, dann fragte er Lena: «Alles in Ordnung mit dir?»
«Ja», sagte sie, aber offensichtlich musste sie sich zwingen, den Blick von dem Röntgenbild loszureißen. «Ja», wiederholte sie. «Dann … äh … können wir ja loslegen.»
Carlos half Sara in den grünen Chirurgenkittel, und dann nahmen sie sich gemeinsam jeden Zentimeter der Leiche vor. Das wenige, was sie fanden, wurde vermessen und fotografiert. Am Hals waren Spuren von Fingernägeln, wahrscheinlich hatte sie sich selbst dort gekratzt, eine ganz normale Reaktion, wenn man keine Luft bekam. An den Spitzen von Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand fehlte die Haut, und Sara vermutete, sie würden die Hautfetzen an der Innenseite der Bretter finden. Unter den verbliebenen Fingernägeln fanden sich Holzsplitter, die von ihren Befreiungsversuchen herrührten, aber Sara fand weder Haut noch Gewebereste darunter.
Auch im Mund der Toten fanden sie nichts Auffälliges, die Schleimhäute waren weder verletzt noch geschwollen. Es gab keine Zahnfüllungen oder sonstigen Hinweise auf zahnärztliche Behandlung, dafür den Ansatz von Karies am rechten hinteren Backenzahn. Ihre Weisheitszähne waren intakt, zwei davon bohrten sich bereits durchs Zahnfleisch. Über der rechten Gesäßhälfte befand sich ein sternförmiges Muttermal, und am rechten Unterarm war ihre Haut an einer Stelle trocken. Da sie ein langärmeliges Kleid getragen hatte, vermutete Sara, dass essich um ein häufiger auftretendes Ekzem handelte. Der Winter machte dünnhäutigen Menschen zu schaffen.
Bevor Jeffrey die Polaroidfotos für die Identifizierung machte, versuchte Sara, den Mund und die Augen der jungen Frau zu schließen, um sie friedlicher aussehen zu lassen. Dann kratzte sie ihr mit einem Messer den Schimmel von der Oberlippe. Viel war es nicht, doch sie versiegelte die Probe in einem Reagenzglas, um sie ins Labor zu schicken.
Jeffrey beugte sich über die Leiche und hielt die Kamera dicht über das Gesicht. Der Blitz explodierte mit einem lauten Knall. Sara blinzelte, und der Gestank von verbranntem Plastik überdeckte kurzzeitig die anderen chemischen Gerüche in der Leichenhalle.
«Eins noch», sagte Jeffrey und beugte sich erneut über das Mädchen. Wieder knallte es, und die Kamera spuckte sirrend das zweite Foto aus.
Lena bemerkte: «Wie eine Obdachlose sieht sie nicht aus.»
«Nein», stimmte Jeffrey zu, und seiner Stimme war anzuhören, wie dringend er Antworten wollte. Er wedelte das Polaroid durch die Luft, als könnte er damit die Entwicklung beschleunigen.
«Nehmen wir ihre Fingerabdrücke», sagte Sara und prüfte die Starre am angewinkelten Arm des Mädchens.
Der Arm gab leichter nach, als Sara erwartet hatte, und offenbar war ihr die Überraschung anzusehen, denn Jeffrey fragte sie: «Wie lange, glaubst du, war sie tot?»
Sie presste den Arm herunter, an den Körper des Mädchens,
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