Grant County 05 - Gottlos
widersprachen allem, was sie je gelernt hatte.
Sie setzte das Skalpell auf der rechten Seite an, schräg unterhalb des Schlüsselbeins. Von dort schnitt sie bis zur Mitte der Brüste, folgte mit der Spitze der Schneide den Rippen bis zum unteren Ende des Brustbeins. Das Gleiche wiederholte sie links. Die Haut faltete sich unter dem Skalpell auseinander, während sie der Mittellinie um den Bauchnabel herum bis zum Schambein folgte. Gelbes Fettgewebe rollte sich hinter der scharfen Klinge zu beiden Seiten weg.
Carlos reichte Sara eine Schere, mit der sie das Bauchfell aufschnitt, als Lena plötzlich nach Luft schnappte und sich die Hand vor den Mund hielt.
«Geht es dir …», setzte Sara an, aber Lena rannte bereits würgend aus dem Raum.
Im Keller der Anatomie gab es keine Toiletten, und Lena versuchte offensichtlich, es rechtzeitig nach oben in die Klinik zu schaffen. Nach den Würgegeräuschen im Treppenhaus zu schließen, war ihr das nicht gelungen. Lena keuchte, und dann hörte man wieder, wie sie sich erbrach.
Carlos murmelte etwas in sich hinein und ging los, um Eimer und Wischmopp zu holen.
Jeffrey machte ein mürrisches Gesicht. Er hatte es noch nie ertragen können, wenn sich jemand in seiner Nähe übergab. «Meinst du, es geht ihr wieder gut?»
Sara sah auf die Leiche und fragte sich, warum Lena so empfindlich reagiert hatte. Als Detective hatte sie häufig Obduktionenbeigewohnt, und bei keiner hatte sie eine solche Reaktion gezeigt. Die Leiche war noch nicht einmal richtig seziert, bisher lag nur ein Teil des Bauchgewebes offen.
Carlos, der inzwischen zurückgekehrt war, bemerkte: «Es ist der Geruch.»
«Welcher Geruch?», entgegnete Sara und überlegte, ob sie den Darm punktiert haben könnte.
Er runzelte die Stirn. «Es riecht irgendwie nach Jahrmarkt.»
Die Tür ging auf, und Lena kam verlegen wieder herein.
«Tut mir leid», sagte sie. «Ich weiß auch nicht, was …» Zwei Meter vor dem Tisch blieb sie stehen und hielt sich erneut die Hand vor den Mund. «Gott, was ist denn das?»
Jeffrey zuckte die Schultern. «Ich rieche nichts.»
«Carlos?», fragte Sara.
Er sagte: «Es riecht irgendwie … verbrannt.»
«Nein», widersprach Lena und wich einen Schritt zurück. «Eher geronnen. Mir zieht sich der Mund zusammen, wenn ich das rieche.»
Bei Sara schrillten die Alarmglocken. «Riecht es bitter?», fragte sie. «So ähnlich wie Bittermandel?»
«Ja», sagte Lena unsicher, ohne näher zu kommen. «Ich glaube schon.»
Auch Carlos nickte, und Sara spürte, wie ihr kalter Schweiß ausbrach.
«Gott», stöhnte Jeffrey und wich einen Schritt von der Leiche zurück.
«Wir müssen sie ins staatliche Labor bringen», sagte Sara und warf das Laken über die Leiche. «Ich glaube, wir haben nicht mal eine Schutzabdeckung hier.»
Jeffrey erinnerte sie: «In Macon gibt es eine Quarantänekammer. Soll ich Nick anrufen und fragen, ob wir da reinkönnen?»
Sie zog die Handschuhe aus. «Es wäre näher, aber die würden mich nur zusehen lassen.»
«Hast du damit ein Problem?»
«Nein», lenkte sie ein und zog einen Mundschutz über. Sie unterdrückte ein Schaudern, als sie daran dachte, was hätte passieren können. Unaufgefordert kam Carlos mit dem Leichensack.
«Vorsichtig», warnte Sara und reichte ihm einen Mundschutz. «Wir haben großes Glück gehabt», erklärte sie, während sie Carlos half, den Sack zu versiegeln. «Nur etwa vierzig Prozent der Bevölkerung können den Geruch wahrnehmen.»
Jeffrey sagte zu Lena: «Gut, dass du heute gekommen bist.»
Verwirrt sah Lena von Sara zu Jeffrey und wieder zurück. «Wovon redet ihr eigentlich?»
«Zyankali.» Sara schloss den Reißverschluss des Leichensacks. «Du hast Zyankali gerochen.» Lena schien immer noch nicht zu begreifen, und so fügte Sara hinzu: «Sie wurde vergiftet.»
MONTAG
VIER
Jeffrey musste so sehr gähnen, dass sein Kiefergelenk knackte. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte durch die Scheibe seines Büros in den Mannschaftsraum, wobei er versuchte, konzentriert zu wirken. Brad Stephens, der jüngste Streifenpolizist der Truppe von Grant County, grinste unbeholfen zu ihm herein. Jeffrey nickte ihm zu, was ihm einen stechenden Schmerz im Nacken bescherte. Er fühlte sich, als hätte er auf Beton geschlafen, was beinahe stimmte, denn das Einzige, was ihn in der letzten Nacht von den Dielen getrennt hatte, war ein Schlafsack gewesen, der so alt und verschlissen war, dass selbst die Heilsarmee dankend
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