Grant County 05 - Gottlos
sie den Jungen zur Familie.
Lena fluchte.
Jeffrey fragte sie: «Meinst du, sie weiß etwas?»
«Keine Ahnung.»
Jeffrey nickte, und sie hörte ihm die Frustration an, als er seufzte: «Bringen wir es hinter uns.»
Lena trat an die Kommode neben der Tür. Jeffrey fing beim Schreibtisch gegenüber an. Das Zimmer war klein, vielleicht zehn Quadratmeter. Ein einzelnes Bett stand unter einem Fenster,das zur Scheune hinausging. An den weißen Wänden hingen weder Poster noch sonst irgendein Hinweis darauf, dass hier eine junge Frau gelebt hatte. Das Bett war ordentlich gemacht und mit einem bunten Quilt bedeckt, der wie mit dem Lineal eingeschlagen war. Ein Stoff-Snoopy, der wahrscheinlich älter als Abby war, saß mit hängendem Kopf in den Kissen.
In der obersten Kommodenschublade lagen ordentlich zusammengelegte Strümpfe. Lena zog die nächste Schublade auf, wo sich ähnlich penibel gefaltete Schlüpfer stapelten. Dass sich die junge Frau die Zeit nahm, ihre Unterhosen einzeln zu falten, kam Lena bemerkenswert vor. Offensichtlich war sie ein sorgfältiger, ordnungsliebender Mensch. Den Schubladen nach zu urteilen, grenzte ihre Ordnungsliebe an Besessenheit.
Genauso wie jeder Mensch seinen geheimen Lieblingsplatz hatte, wo er Dinge versteckte, hatte jeder Polizist seinen Lieblingsplatz, wo er zuerst danach suchte. Jeffrey warf einen Blick unter das Bett und tastete zwischen Matratze und Lattenrost herum. Lena kniete sich vor den Schrank, um sich die Schuhe anzusehen. Es waren drei Paar, alle getragen, aber gepflegt. Die Turnschuhe waren weiß geputzt, die Riemchenschuhe am Absatz ausgebessert. Das dritte Paar war noch makellos, wahrscheinlich Abigails Sonntagsschuhe.
Lena klopfte die Bretter am Boden des Schranks ab. Nichts klang verdächtig, und die Bretter saßen ausnahmslos fest. Dann ging sie die Kleider durch, die an der Stange hingen. Auch ohne Maßband hätte Lena schwören können, dass die Abstände zwischen den Kleidern auf den Zentimeter genau gleich waren. Die einzelnen Kleidungsstücke berührten einander nicht. Ein langer Wintermantel hing auf einem Bügel, offensichtlich gekauft. Die Taschen waren leer, die Nähte intakt. Kein aufgetrennter Saum, keine Geheimtasche.
Lev erschien mit dem Laptop in der Tür. «Haben Sie was gefunden?», fragte er.
Lena schrak zusammen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Jeffrey richtete sich auf, die Hände in den Hosentaschen. «Nichts, was uns weiterbringt», antwortete er.
Lev überreichte Jeffrey den Computer, das Kabel schleifte über den Boden. Lena fragte sich, ob Lev sich die Festplatte selbst angesehen hatte, während sie das Zimmer durchsuchten. Paul hätte es mit Sicherheit getan.
«Behalten Sie ihn, solange Sie wollen», erklärte Lev. «Es würde mich wundern, wenn Sie etwas finden.»
«Wie Sie ganz richtig sagten», gab Jeffrey zurück, «müssen wir jede Möglichkeit ausschließen.» Er nickte Lena zu, und sie folgte ihm hinaus. Im Flur hörten sie die Familie murmeln, doch als sie das Wohnzimmer betraten, wurde es still.
An Esther gewandt sagte Jeffrey: «Es tut mir sehr leid.»
Sie blickte Jeffrey mit blassgrünen Augen an, die ihn zu durchbohren schienen. Sie sprach kein Wort, doch ihre flehentliche Bitte stand im Raum.
Lev öffnete die Haustür. «Ich danke Ihnen», sagte er. «Mitt wochmorgen bin ich um neun auf dem Revier.»
Offenbar wollte auch Paul noch etwas sagen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Lena konnte förmlich sehen, was ihm durch das kleine Anwaltshirn ging. Wahrscheinlich machte es ihn fuchsteufelswild, dass Lev sich freiwillig für den Lügendetektortest meldete. Sie ging davon aus, dass Paul seinem Bruder eine Standpauke halten würde, sobald die Polizei aus dem Haus war.
Jeffrey erklärte: «Wir müssen jemanden kommen lassen, der den polygraphischen Test durchführt.»
«Natürlich», antwortete Lev. «Aber ich möchte noch einmal betonen, dass ich nur mich selbst freiwillig melden kann. Ebenso werden die Leute, die morgen zu Ihnen kommen, dies auf freiwilliger Basis tun. Ich will Ihnen keineswegs sagen, wie Sie Ihren Job zu machen haben, Chief Tolliver, aber es wird schwer genugsein, sie dazu zu bewegen, überhaupt aufs Revier zu kommen. Falls Sie jemanden zu einem Lügendetektortest zwingen wollen, kann es gut sein, dass er wieder verschwindet.»
«Danke für den Rat», antwortete Jeffrey. «Könnten Sie auch Ihren Vorarbeiter zu uns schicken?»
Die Bitte schien Paul zu überraschen.
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