Grant County 05 - Gottlos
Tüte heraus. Vorsichtig fragte sie: «Hat das mit deiner neuen Gemeinde zu tun?»
«Nein.» Tessa nahm ihr die Tüte aus der Hand. «Vielleicht.» Sie öffnete die Packung mit den Zähnen. «Jedenfalls ist es in meinem Leben bis jetzt nicht besonders gelaufen. Wäre doch blöd, wenn ich einfach so weitermache.»
«Was ist nicht so gelaufen?»
Tessa schüttelte nur den Kopf. «Alles.» Sie hielt Sara die Tüte hin, doch Sara lehnte ab. Sie musste jetzt schon den Reißverschluss an ihrem Rock aufmachen, damit sie Luft bekam.
Tessa fragte: «Hat dir jemand gesagt, warum Bella da ist?»
«Ich dachte, du würdest mir das sagen können.»
«Mir verrät doch keiner was. Immer wenn ich reinkomme, hören sie auf zu reden. Als würde ich automatisch den Ton abstellen.»
«Geht mir auch so», stellte Sara fest.
«Tust du mir einen Gefallen?», fragte Tessa.
«Natürlich.» Sara spürte eine Veränderung in Tessas Ton.
«Komm am Mittwochabend mit in die Kirche.»
Sara fühlte sich wie ein Fisch, der auf dem Trockenen gelandet war. Sie klappte den Mund auf und zu und suchte fieberhaft nach einer Ausrede.
«Es ist gar nicht wie in der Kirche», sagte Tessa. «Es ist eher wie ein Kaffeekränzchen. Die Leute treffen sich und quatschen. Es gibt sogar Rosinenbrötchen.»
«Tess …»
«Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber ich hätte dich so gerne dabei.» Tessa zuckte die Achseln. «Tu’s für mich.»
Mit dem gleichen Trick hatte Cathy ihre Töchter in den letzten zwanzig Jahren dazu gebracht, an Ostern und Weihnachten mit zur Messe zu kommen.
«Tessie», begann Sara. «Du weiß doch, dass ich nicht glaube …»
«Ich bin mir auch nicht ganz sicher», unterbrach Tessa. «Aber ich fühle mich einfach wohl dort.»
Sara stand auf und stellte den Braten in den Kühlschrank.
«Ich habe Thomas in der Physiotherapie kennengelernt. Vor ein paar Monaten.»
«Wer ist Thomas?»
«Er ist so was wie der Gründer der Gemeinde», erklärte Tessa.«Er hatte vor kurzem einen Schlaganfall. Ziemlich schlimm. Er ist schwer zu verstehen, aber die Art, wie er mit einem redet – er spricht zu dir, ohne dass er was sagen muss.»
In der Spülmaschine stand seit Tagen sauberes Geschirr, und Sara begann, es auszuräumen, nur um etwas zu tun zu haben.
«Es war seltsam», erzählte Tessa. «Ich habe meine blöden motorischen Übungen gemacht, wo man Holzklötze in die richtigen Löcher stecken muss, und plötzlich habe ich gespürt, dass mich jemand ansieht. Als ich aufblickte, war da dieser alte Mann im Rollstuhl. Er nannte mich Cathy.»
«Cathy?», wiederholte Sara.
«Ja. Er kennt Mama.»
«Woher kennt er Mama?» Sara dachte, sie kannte alle Freunde ihrer Mutter.
«Ich weiß es nicht.»
«Hast du sie gefragt?»
«Ich habe es versucht, aber sie hatte keine Zeit.»
Sara schloss die Spülmaschine und lehnte sich dagegen. «Und was ist dann passiert?»
«Thomas hat mich gefragt, ob ich mal mit in die Kirche kommen wollte.» Tessa zögerte einen Moment. «Da oben im Reha-Zentrum, wo man all die Leute sieht, denen es viel schlechter geht als mir …» Sie zuckte die Schultern. «Irgendwie hat es meine Perspektive verändert, verstehst du? Und ich habe eingesehen, dass ich mein bisheriges Leben vergeudet habe.»
«Du hast dein Leben nicht vergeudet.»
«Ich bin vierunddreißig und wohne immer noch bei meinen Eltern.»
«In einem Apartment über der Garage.»
Tessa seufzte. «Ich finde, dass das, was mir passiert ist, nicht umsonst gewesen sein darf.»
«Es hätte überhaupt nicht passieren dürfen.»
«Als ich im Krankenhaus lag, bin ich in Selbstmitleid versunken.Ich war so wütend auf die Welt. Und dann habe ich es auf einmal kapiert. Ich bin mein Leben lang egoistisch gewesen.»
«Warst du nicht.»
«Doch, das war ich. Du hast es selbst gesagt.»
Nie hatte Sara ihre Worte so bereut. «Nur, weil ich wütend auf dich war.»
«Weißt du was? Das ist genauso wie bei Leuten, die zu viel getrunken haben. Hinterher sagen sie, sie hätten es nicht so gemeint, und bitten dich um Vergebung», erklärte sie. «Alkohol baut die Hemmungen ab. Im Suff erfindest du auch keine Lügen. Du warst sauer, und da hast du gesagt, was du wirklich denkst.»
«Hab ich nicht», behauptete Sara, doch ihr Einspruch klang schal.
«Ich wäre beinahe gestorben, und wofür? Was habe ich aus meinem Leben gemacht?» Tessa hatte die Hände zu Fäusten geballt. Dann versuchte sie es mit einem anderen Argument. «Wenn du sterben würdest, welches
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