Grant County 05 - Gottlos
Versäumnis würdest du am meisten bereuen?»
Sara schoss die Antwort sofort durch den Kopf: Ein Kind. Doch sie sprach es nicht aus.
Tessa konnte es in ihren Augen lesen. «Du könntest doch eins adoptieren.»
Sara zuckte die Achseln. Sie konnte nicht antworten.
«Wir haben noch nie darüber gesprochen. Es ist fast fünfzehn Jahre her, und wir haben nie darüber gesprochen.»
«Dafür gibt es einen Grund.»
«Welchen?»
Doch Sara weigerte sich, darauf einzugehen. «Wozu, Tessie? Nichts wird sich ändern. Es gibt keine wundersame Heilung.»
«Du gehst so toll mit Kindern um, Sara. Du wärst eine wunderbare Mutter.»
Sara sprach die drei Worte aus, die sie am meisten hasste. «Ich kann nicht.» Dann flehte sie: «Bitte, Tessie.»
Tessa nickte, doch Sara spürte, dass es nur ein vorübergehender Rückzug war. «Ich jedenfalls würde am meisten bereuen, dass ich kein Zeichen hinterlassen habe. Dass ich nichts getan habe, um die Welt zu verbessern.»
Sara nahm ein Taschentuch und putzte sich die Nase. «Das tust du doch.»
«Es gibt für alles einen Grund», beharrte Tessa. «Ich weiß, dass du nicht daran glaubst. Ich weiß, dass du nichts glaubst, wofür es keine wissenschaftliche Erklärung gibt, aber für mich ist das lebensnotwendig. Ich brauche das Vertrauen, dass es einen Grund für die Dinge gibt, die passieren. Ich muss daran glauben, dass etwas Gutes darin liegt, wenn man etwas verliert …» Sie unterbrach sich. Sie konnte den Namen ihres toten Kindes noch immer nicht aussprechen. Auf dem Friedhof stand ein kleines Kreuz zwischen Cathys Eltern und einem geliebten Onkel, der in Korea gefallen war. Sara spürte jedes Mal einen Stich im Herzen, wenn sie an das kalte Grab und die verlorenen Möglichkeiten dachte.
«Du kennst seinen Sohn.»
Sara runzelte die Stirn. «Wessen Sohn?»
«Thomas’ Sohn. Er ist mit dir zur Schule gegangen.» Tessa stopfte sich eine Handvoll Erdnussflips in den Mund, dann faltete sie die Tüte zusammen. Mit vollem Mund redete sie weiter: «Er hat genauso rote Haare wie du.»
«Ich bin mit ihm zur Schule gegangen?», fragte Sara skeptisch. Rothaarige fielen sich gegenseitig auf. Sie fielen ganz im Allgemeinen auf. Sara wusste, dass sie an ihrer Grundschule das einzige Kind mit roten Haaren gewesen war. Sie erinnerte sich nur zu genau, wie sie darunter gelitten hatte. «Wie heißt er?»
«Lev Ward.»
«Es gab keinen Lev Ward auf meiner Schule.»
«In der Sonntagsschule», erklärte Tessa. «Und er weiß ein paar komische Geschichten über dich.»
«Über mich?» Jetzt wurde Sara doch neugierig.
«Und», sagte Tessa, als würde sie Sara damit vollends rumkriegen, «er hat den süßesten fünfjährigen Sohn, den man sich nur vorstellen kann.»
Sara durchschaute Tessas Trick. «In der Kinderklinik kriege ich jeden Tag süße Fünfjährige zu sehen.»
«Bitte, denk drüber nach. Du musst dich nicht jetzt entscheiden.» Tessa sah auf die Uhr. «Ich muss heim, bevor es dunkel wird.»
«Soll ich dich fahren?»
«Nein danke.» Tessa küsste sie auf die Wange. «Bis später.»
Sara strich ihrer Schwester die Erdnussflipkrümel aus dem Gesicht. «Fahr vorsichtig.»
Auf dem Weg zur Tür drehte Tessa sich noch einmal um. «Es ist nicht nur der Sex.»
«Was?»
«Bei dir und Jeffrey», erklärte sie. «Es ist nicht nur die Chemie, die stimmt. Immer wenn ihr Probleme hattet, seid ihr stärker geworden. Jedes Mal.» Sie bückte sich, um Billy zu tätscheln, dann kraulte sie Bob hinter den Ohren. «Immer wenn du ihn gebraucht hast, war er da. Die meisten Männer wären längst davongelaufen.»
Als Tessa sich von den Hunden verabschiedet hatte, zog sie sacht die Tür hinter sich zu.
Sara griff nach den Erdnussflips und überlegte, ob sie die Tüte leer machen sollte, obwohl ihr der Rockbund jetzt schon ins Fleisch schnitt. Sie hätte gerne ihre Mutter angerufen und gefragt, was los war. Sie hätte gerne Jeffrey angerufen und ihn angeschrien, und ihn dann nochmal angerufen, damit er herkam und sich mit ihr einen alten Film im Fernsehen ansah.
Stattdessen schenkte sie sich noch ein Glas Wein ein, setzte sich wieder aufs Sofa und versuchte, nicht nachzudenken. Aber je mehr Mühe sie sich gab, desto hartnäckiger wurden die Gedanken, die sie zu verdrängen versuchte, und bald tauchten wiederdie Bilder der Toten im Wald auf, der Anblick des leukämiekranken Jimmy Powell, eine Vision von Jeffrey im Krankenhaus mit Leberversagen im Endstadium.
Schließlich zwang sie sich, noch
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