Grappa 02 - Grappas Treibjagd
›Bierstädter Profile‹ darf Ihr Porträt natürlich nicht fehlen.«
Er drückte meine Hand. Hielt sie eine Weile. Nicht zu lange, dass ich es hätte missverstehen können.
»Setzen Sie sich doch bitte. Ich habe uns etwas Kaffee bestellt.«
Ich schaute ihn an. Er war der Mann aus dem »Pinocchio«. Aber er sah bedeutend besser aus, war entspannt und locker. Ganz darauf bedacht, auf eine Medienfrau einen guten Eindruck zu machen. Er trug eine Goldrandbrille, diesmal mit ungetönten Gläsern, ich konnte seine Augen erkennen. Blassblau und hellwach, kalt. Unvorstellbar, dass er mit diesen Augen Laura angeschaut hatte.
Ich begann meine Show abzuziehen. »Darf ich Sie zunächst etwas zu Ihrer Person fragen, Herr Professor?«
Er nickte und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Sehr überlegen, sehr sicher, kalt bis in die Nervenspitzen. Ich konnte kaum glauben, dass er im »Pinocchio« nervös und aufgeregt gewesen war.
Mein Blick fiel auf ein goldgerahmtes Foto auf seinem Schreibtisch. »Ihre Familie?«, fragte ich und nahm das Bild zu mir heran. Er schaute mich überrascht an. Auf dem Foto waren zwei kleine Mädchen. »Wie heißen die beiden denn, Herr Professor?«
»Lassen Sie doch den Professor weg, meine Liebe. Violetta und Mascha – es sind Zwillinge. Elf Jahre alt. Sehr hübsch und sehr intelligent. Sie sind unsere ganze Freude.«
Der Vaterstolz machte ihn fast sympathisch. Wenigstens seine Kinder schien er zu lieben.
Die Sekretärin klopfte an und brachte den Kaffee. Ich hatte Zeit, mir das Büro anzusehen. Es war gediegen und nicht zu modern eingerichtet. An den Wänden Fotodrucke von alten russischen Ikonen. Über dem Türeingang ein Kruzifix.
Ich rührte artig meinen Kaffee um und stellte die üblichen Fragen nach Kindheit, Jugend, Schulzeit, Studium.
Er antwortete kurz und präzise, streute hier und da einige humorvolle Bemerkungen ein. Sein Papa war Küster gewesen und hatte sonntags die Glocken zur Heiligen Messe geläutet, die Mutter dem Pfarrer den Haushalt geführt, Klein-Christians Begabung war früh entdeckt worden. Die Eltern und der Geistliche hatten ihn nach Kräften gefördert. Seine Stimme war nicht unangenehm, hatte eine wohlklingende Tiefe. Ich bemerkte, wie ich mich entspannte und mein wacher Geist langsam eingelullt wurde. Ich begriff plötzlich, warum Laura ihn gemocht hatte. Er war anders als die Männer, die sie bisher gekannt hatte, denn er hatte sich nicht wie sie durch Abendschulen, Fernkurse und Qualifizierungsmaßnahmen quälen müssen. Hatte seine Zeit nicht in Wohngemeinschaften und bei politischen Diskussionen vergeudet, sondern zielstrebig an seiner Karriere gearbeitet. Laura war dem jovialen Charme eines bildungsbürgerlichen Karrieristen erlegen!
Es langte. Das Vorgeplänkel war lang genug. Er war in leutseliger Stimmung, war ins Schwätzen geraten, fühlte sich sicher. Ich konnte beginnen. »Ich habe gehört, Sie haben ein interessantes Hobby?«
Er schaute ungehalten, weil ich seinen Redefluss unterbrochen hatte. »Hobby? Ach ja, ich habe viele Hobbys, welches meinen Sie?«
»Psychologische Märchendeutung. Interpretationen von Tabus, das Aufzeigen von Verdrängungsprozessen. Ich stelle mir eine solche Arbeit sehr spannend vor. Den Märchen auf den Grund zu gehen, um zu ganz neuen Aussagen zu gelangen. Wirklich interessant. Wie schaffen Sie das nur bei Ihrem anstrengenden und wichtigen Beruf?«
Schmeichel, schmeichel. Das kommt bei Interviews immer gut an, lockert die Zungen, macht unvorsichtig. Besonders Männer fahren darauf ab.
»Sie kennen meine Passion? Wer hat Ihnen davon erzählt?« Er lächelte mich an und war hocherfreut.
»Eine Bekannte, die Sie mal bei einem dieser Vorträge gehört hat. Laura Gutweil, eine Psychologin aus der ›Städtischen Beratungsstelle für Menschen in Not‹. Sie müssten sie doch eigentlich kennen?«
Seine entspannte Haltung änderte sich, er zog sich mit beiden Armen aus dem Sessel hoch und setzte sich gerade hin. Er reagierte schnell auf die veränderte Situation und meinen geänderten Frageton.
Ich ließ ihn nicht aus den Augen, er mich allerdings auch nicht.
Die blassblauen Pupillen zogen sich zusammen, die Halsschlagader pulsierte. Von Null auf 180 in zwei Sekunden! Keine schlechte Leistung. Es konnte losgehen!
»Frau Gutweil?« Er zögerte etwas zu lange. Ganz unprofessionell, Herr Professor, dachte ich.
Dann erhellten sich seine Gesichtszüge und spielten Erinnerung vor. »Ja, ich kannte mal eine Frau
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