Grappa 05 - Grappa faengt Feuer
Unbills lauten, etwas näselnden Tonfall, »haben die Vorfahren von Herrn Dr. Kondis gebaut. Wenn die nicht so emsig gewesen wären, hätten die Nachfahren von Herrn Dr. Unbill nicht Gelegenheit gehabt, irgendetwas auszugraben und sich so ihre wissenschaftliche Reputation zu sichern. Das Leben ist halt ein gegenseitiges Geben und Nehmen!«
Alle lachten. Sogar Unbill verzog die Mundwinkel nach oben.
»Dem Besserwisser haben Sie es aber gegeben!«, lobte Martha Maus. »Eine komische Familie. Der Sohn kriegt keinen Ton raus und rennt dauernd hinter seinem Vater her. Halten Sie das für normal?«
»Ajax Unbill würde gerne so sein wie alle anderen, doch er darf nicht.«
»Ajax – so ein blöder Name. Ich habe Dr. Kondis gefragt, wer dieser Ajax war. Es gab zwei Ajaxe. Der eine wurde verrückt, weil er die Rüstung des toten Helden Achilleus nicht bekam, der andere vergewaltigte die Seherin Kassandra, die Tochter des Troja-Königs Priamos.«
»Er vergewaltigte sie?«
»Genau. Doch die Götter haben ihn bestraft. Er ist ertrunken.«
»Gerechte Strafe«, sagte ich. »Vergewaltigung kommt in der griechischen Mythologie leider sehr häufig vor. Die Vergewaltigung der Frau, um ihren Mann zu demütigen. Die Schändung von Frauen, um ein Volk zu bestrafen. Dieses finstere Kapitel reicht bis in unsere moderne und angeblich so aufgeklärte Zeit.«
Wir streiften noch eine Weile durchs weitläufige Gelände. Martha Maus wollte trotz anschwellender Beine weiterlaufen. Ich blieb an der heiligen Eiche sitzen und beobachtete meine Gruppe. Gerlinde von Vischering hatte sich einen blauen Strohhut weit in die Stirn gezogen und trug trotz bewölkten Himmels eine große Sonnenbrille. Die rechte Gesichtshälfte war geschwollen. Ihr nächtlicher Besucher hatte ordentlich zugelangt. Sie hatte heute früh kaum ein Wort gesprochen.
Das Ehepaar Traunich schien sich wieder versöhnt zu haben, denn sie gingen Hand in Hand. Daphne Laurenz hatte ihren frischen Mädchencharme verloren, sie war blass, wirkte lustlos und gelangweilt. Die beiden Unbills hatten einen Plan der Ausgrabungsstätte dabei und schritten die Linien und Grundrisse ab. Die Gruppe fiel langsam auseinander. Ich hörte Kondis etwas von »20 Minuten« rufen.
Er verließ die Gruppe und ging Richtung Ausgang. Ich saß noch immer unter der Eiche. Als er auf meiner Höhe war, schaute er kurz zu mir hin. »In 20 Minuten treffen wir uns am Bus!«, rief er.
»Aye aye, Sir!«, salutierte ich.
Kondis' Miene blieb neutral. Er machte auf unverstanden und verletzt. Ich hatte keine Lust, ihn aus der Schmollecke zu holen.
»Dann bis gleich«, stieß er hervor und schritt aus. Seine helle Leinenhose flatterte um die Beine, die schwarzen Haare stießen an den Kragen seines weißen Hemdes. Wütend trat er gegen einen umgestürzten Baum, bevor ihn eine Senke meinen Blicken entzog.
Dich krieg ich noch, brummte ich halblaut vor mich hin.
Ich nahm das Rauschen des Windes in der heiligen Eiche von Dodona noch auf Band auf und vervollständigte meine Notizen. Dann schlenderte ich langsam zum Ausgang, wo Kondis, Aris und Costas mit den Wärtern des Heiligtums Neuigkeiten austauschten. Nach und nach trudelten alle ein.
»Jassas!«, winkte Kondis den Männern zum Abschied zu. Und zu uns sagte er: »Wir fahren jetzt in die berühmten Zagoria-Dörfer. Es handelt sich um Bergdörfer mit jahrhundertealter griechischer Bauernkultur. Steigen Sie bitte ein, wir starten.«
Ich verkrümelte mich auf meinen hinteren Platz. Schwer prustend hievte Martha Maus ihre Tasche ins Gepäcknetz. Ajax Unbill kam der alten Frau zu Hilfe.
»Wer hat das auf meinen Sitz gelegt?«, schrie Daphne Laurenz. Alle sahen erschrocken zu ihr hin. In der Hand hielt sie einen grünen Zweig. »Wer hat das getan?« Sie schluchzte.
Kondis öffnete ihre Hand und nahm den Zweig. Er zerrieb ein Blatt zwischen den Fingern und sagte verblüfft: »Was ist denn los? Das Kraut ist völlig harmlos. Es ist Ackerminze. Die wächst in Massen zwischen den Ruinen.«
Sie starrte ihn an, als hätte sie eine überirdische Erscheinung vor sich. Er drückte Daphne sanft auf ihren Sitz. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Kondis sprach leise auf sie ein. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber ich wusste, dass der Verbrecher, der Daphne Laurenz in der ersten Nacht in Delphi vergewaltigt hatte, ein Zeichen setzen wollte. Er hatte Spaß daran, sie zu quälen, sie immer wieder an die Demütigung, die sie erlitten hatte, zu erinnern.
Ein
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