Grappa 05 - Grappa faengt Feuer
die Unterwelt führte, war der schönste und heiterste Fluss, den ich jemals gesehen hatte. Kein flüssigkeitsarmes Gewässer mit breiten, ausladenden Ufern, sondern ein tiefer, voller Fluss mit einem gerade abfallenden Rand, an dem kleine Fischerboote festgemacht waren. Das Schönste am Acheron war seine tiefgrüne Farbe.
Nachdem ich meine Sachen im Zimmer verstaut und geduscht hatte, setzte ich mich direkt neben den Acheron, an dessen Rand Tische und Stühle gestellt worden waren. Der Fluss war an dieser Stelle etwa zehn Meter breit. Am gegenüberliegenden Ufer wuchs mannshohes Schilf, dahinter waren die Umrisse von Bergen zu sehen. Schwalben flogen auf der Jagd nach Insekten knapp über der Wasseroberfläche, die sich in gleichmäßigen Wellen kräuselte. Ein kleiner Hund trippelte ans Ufer und trank, ab und zu tuckerte ein Fischerboot übers Wasser. Es waren Fischer, die vom Meer kamen und ihre Netze während der Heimfahrt entwirrten. Einige von ihnen winkten zu mir herüber. Die Idylle war fast perfekt.
Doch leider haben Gruppenreisen den Nachteil, dass man niemals allein sein kann. Diesmal war es Gerlinde von Vischering, die sich an meinen Tisch heranpirschte. Sie war wieder korrekt mit Faltenrock, weißer Bluse und Pumps bekleidet, trug eine Flasche Bier und ein Glas in der Hand und schien bester Laune zu sein.
»Darf ich?« Die Frage war rhetorisch, denn sie saß bereits.
»Kommen Sie mit Ihrer Arbeit vorwärts?«, wollte sie wissen.
Da hatte sie einen wunden Punkt bei mir erwischt, denn an meinen Auftrag hatte ich schon lange keinen Gedanken mehr verschwendet. Warum in aller Welt sollte ich eine Story über den Mythos der »Bildungsreise« machen, wenn ich mich mitten in einer Kriminalstory befand, die nur auf mich zu warten schien, um gelöst zu werden?
Mir fiel die Nacht in Dodona ein, als ein Unbekannter Gerlinde von Vischering einen Schlag versetzt hatte, an dem sie noch heute litt. Ich hatte Lust, ihr auf den gepflegten Zahn zu fühlen.
»Was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht? Es sieht ziemlich lädiert aus!«
Sie zögerte einen Moment, um dann mit der ältesten Ausrede geschlagener Frauen anzukommen: »Ich bin mit dem Gesicht gegen den Kleiderschrank gelaufen.«
»Sie Ärmste! Und das Veilchen unter der Sonnenbrille?«
»Was gehen Sie meine Verletzungen an?«, fragte sie zickig. »Wenn ich Ihren Rat brauche, dann melde ich mich schon!«
»Ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber ich habe in Dodona zufällig mitbekommen, wie Sie sich mit einem Herrn gestritten haben. Es ging um Geschäfte und um gegenseitige Beziehungen.«
»Sie haben gelauscht?«, giftete sie. »Das wird ja immer toller!«
»Von wegen gelauscht«, protestierte ich. »Ihr Dialog war nicht zu überhören. Hotels sind hellhörig. Ich meinte auch, einen Schlag mitbekommen zu haben. Ihr Freund hat eine kräftige Handschrift.«
Meine Stimme war leise geblieben, und ich servierte ihr die Fakten im Plauderton. Ihre Hände wurden nervös und drehten das leere Bierglas.
»Und wenn schon!« Sie rang um Fassung. »Was ich mit …«
Mist, dachte ich, fast hätte sie den Namen des Mannes genannt.
»Ich weiß, dass es Dr. Unbill war«, startete ich einen Versuchsballon, »um welche ›miesen Geschäfte‹ ging es eigentlich?«
»Ich weiß nicht, was Sie gehört haben, Frau Grappa!« Sie hatte sich wieder gefangen. »Wir haben nie über Geschäfte geredet, das müssen Sie sich eingebildet haben.«
»Wie Sie wollen!« Ich tat resigniert, jubelte aber innerlich. Der alte Unbill und Gerlinde von Vischering. Welche gemeinsame Leiche hatten die beiden im Keller?
Gerlinde hatte genug vom Geplauder mit mir und verschwand. Ich klappte meine Bücher auf und erfuhr, dass der Acheron einer der vier Ströme der Unterwelt war, über den der schreckliche Fährmann Charon die Seelen der Verstorbenen in einem halb verfaulten Binsenboot übersetzte. Die Toten mussten nach dem gebräuchlichen Ritual bestattet worden sein und unter der Zunge den Obolos als Fährgeld bei sich haben.
Bald war es zu dunkel, um weiterzulesen. Ich ging über die Straße zum Hotel. Bald wäre ich gegen den Transporter gelaufen, dem wir unseren Aufenthalt im Feld zu verdanken hatten.
Der Fahrer klingelte den ganzen Ort zusammen und bot per Lautsprecherdurchsage seine Plastikstühle an. Es war genau die Sorte, mit denen die Restaurants und Tavernen in Griechenland bereits überschwemmt worden waren. Sie waren farbecht, unverwüstlich und aus einem Stück
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