Grappa und die keusche Braut
er sie ausgerechnet jetzt verraten? Dann wäre er selbst dran.«
»Gewissensbisse?«, schlug Caro vor.
»Der Typ war doch eiskalt«, entgegnete ich. »Und die Pralinen und das Gift wurden bei dir gefunden, liebes Mädchen!«
»Ja, ich weiß. Ich bin ja auch so blöd, Giftpralinen in meinem Zimmer herzustellen. Und die Beweise den Bullen auf dem Tablett zu servieren.«
»Zweimal blöd ist vielleicht einmal intelligent«, wandte ich ein. »Minus mal minus ergibt plus.«
»Was meinst du?«
»Du lässt die Beweise in deinem Zimmer zurück, um später zu sagen, dass du nicht so doof sein kannst, die Beweise zurückzulassen«, erklärte ich. »Und jetzt erzähl bitte genau, was gestern geschehen ist. Warst du in Lerchenmüllers Wohnung?«
»Aber nein!«
»Die Lindenthal will dich gesehen haben – mit der Pralinenschachtel.«
»Kann sie nicht. Sie lügt.«
»Und wie soll sie die Pralinen und das Gift in dein Zimmer gebracht haben?«, fragte ich.
»Mit dem Generalschlüssel. Der passt überall.«
»Weißt du, ob auf der Schachtel Fingerabdrücke gefunden wurden?«
Caro schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wenn ja – meine können es nicht gewesen sein. Ich habe so einen Kasten niemals angefasst.«
Ausgetretene Pfade
In der Nacht dachte ich immer wieder an Caros Vermutung: Vielleicht war er ja sogar Zeuge, wie Lara geschossen hat. Die beiden einzelnen Schüsse nach dem Massaker. Waren sie der Schlüssel zur Wahrheit?
Ich nahm einen Zettel und kritzelte die Namen der Beteiligten darauf.
Patrick verletzt Lindenthal und erschießt sich. An seinen Fingern werden Schmauchspuren festgestellt. Diese Version war eigentlich nicht zu toppen.
Oder doch?
Lindenthal schießt die Schüler nieder. Als letzten erschießt sie Patrick. Aber wie kommt sie zu ihrer Schulterwunde? Konnte sie Patrick dazu zwingen, ihr in die Schulter zu schießen? Nein. Völlig unmöglich. Patrick hätte nicht nur auf die Schulter der Lehrerin gehalten.
Dritte Variante: Lindenthal schießt, aber sie hat einen Helfer. Der soll Lara anschießen, damit sie nicht in Verdacht geraten kann. Wenn das einer der Schüler ist, überlebt er es nicht, und Lara muss mit dem letzten Schuss den Helfer töten. Patrick kann das nicht sein.
Ein Helfer von außen würde den letzten Schuss erklären. So machen die beiden Einzelschüsse Sinn, dachte ich.
Aber wer könnte das sein? Wer würde einer Massenmörderin helfen, davonzukommen, und warum?
Ich blickte auf den Zettel. Da stand nun: Patrick, Lara, Helfer.
Wer konnte der Helfer sein?
Lerchenmüller?
Aber warum war Lerchenmüller dann tot?
Ich war zum Sterben müde. In den kurzen Stunden bis zum Morgen träumte ich die Varianten des Massakers immer wieder von Neuem und erfand noch weitere dazu. In allen Versionen spielte Lerchenmüller die Rolle des Mitwissers. Seltsam, wie sich diese kleine Bemerkung von Caro so festfraß in meinen Vorstellungen.
Wie durch den Fleischwolf gedreht! Ich schaute in den Spiegel und dachte an den immer wieder gern bemühten Gag: Dich kenn ich nicht, dich wasch ich nicht.
Meine Augen waren klein, die Falten zogen sich von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln. Das Kinn straffte sich nur, wenn ich den Kopf wie ein Reiher nach vorn schob. Ein Frauenversteher hatte mal den milden Satz geprägt, dass Falten Linien menschlicher Weisheit seien, die vom Pinsel der Natur gemalt werden. So ein Schrott! Meine Falten kamen von zu wenig Schlaf, zu viel Wein, zu wenig Disziplin und dem unsteten Single-Leben. Na ja, das Alter hatte auch was damit zu tun. Mit Mitte fünfzig trägst du dein Leben eben im Gesicht und nicht nur auf den Hüften, dachte ich. Ich sah aus wie etwas, mit dem ein Hund zu lange gespielt hatte.
Ich duschte kalt. Die Wassertropfen trafen meine Haut wie Nadelspitzen. Jetzt noch mal zurück ins warme Bett!
Nein. Nicht schwächeln. Doch, schwächeln! Ich verkroch mich und zog die Decke über mich. Diese vertrackte Geschichte nagte an meinen Nerven und stellte alles infrage, was ich mir bislang zugetraut hatte.
Mein Job nervte mich, die Zukunft ohne Peter Jansen beunruhigte mich. Meine Beziehung zu Kleist war kompliziert und nicht gerade innig. Aber wollte ich überhaupt mehr Nähe zulassen?
Ich schleppte mich zum Telefon und meldete mich krank. Jansen zeigte Verständnis.
»Du hast gestern schon so ausgesehen wie ein Schluck Wasser in der Kurve.«
»Danke. Komplimente waren schon immer deine Stärke«, entgegnete ich. »Das wird mir
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