Grass, Guenter
aufgenommen.
In
meiner Antwort auf Kant wies ich auf sein Ausblenden der sowjetischen
Hochrüstung hin. Wir bestanden darauf, daß nicht nur die Pershing-II-Raketen,
sondern gleichfalls alle SS-20-Raketen zu verschwinden hätten. Was Kant, darin
geübt, mit rhetorischen Tricks zu überbrücken versuchte, blockte Henniger, sein
Aufpasser, weg: zu Beton erstarrte Sätze. Wörter auf Linie getrimmt. Zweifel
nicht zugelassen.
Dann
kam ich auf ein im ostdeutschen Verband tabuisiertes Thema. Es ging um den
Schriftsteller Erich Loest, dem in den Fünfzigern der Prozeß gemacht worden
war. Aus der Anstalt Bautzen, die ihrer Ziegelsteinfarbe wegen »Gelbes Elend«
hieß, wurde er erst nach siebeneinhalb Jahren Haft entlassen.
Ich
nannte Loest, wie zu lesen steht, »ein Opfer des Stalinismus« und forderte den
ostdeutschen Schriftstellerverband auf, ihn, was gleichfalls protokollarisch
vermerkt wurde, »im Zeitalter von Glasnost und Perestroika« zu rehabilitieren,
wenn auch verspätet und nahe der Grenze zum »zu spät«.
Anna
Jonas unterstützte mich. Wir argumentierten gesamtdeutsch: Erich Loest sei
unser aller Kollege. Wir sollten gemeinsam, weil angehörig einer
Kulturnation...
Dazu
sagt das Protokoll des Staatssicherheitsdienstes, das, wenn nicht Kant, dann
Henniger oder sonstwer verfaßt haben könnte: »Diese Worte stießen auf heftigen
Widerspruch aller DDR-Teilnehmer.«
Heute,
aus mehr als zwei Jahrzehnten Distanz, frage ich mich doch, wieso einige der
mir gegenübersitzenden Schriftsteller von Rang, deren Romane und Gedichte ich
schätzte, kein Wort für Loest fanden. Es wäre zu dieser Zeit für sie von
hinzunehmender Gefahr gewesen. Aus der Sowjetunion kamen Signale, die in Polen
und Ungarn verstanden wurden. Überall taten sich kleine und sogleich genutzte
Freiräume auf. Ein Jahr nach unserem Treffen gingen junge und alte Menschen in
der DDR auf die Straßen. Leipzig leuchtete. An vier Wörtern zerbrachen der
Staat und sein Sicherheitssystem. Die Mauer kam zu Fall.
Im
Rückblick auf deutsches Verhalten scheint mir, als habe sich ängstliches
Anpassen, wie jenes im Jahr 1837, als die Göttinger Sieben ihrer Protestation
wegen entlassen wurden, seitdem landesweit eingeübt. Beispielhaft die Duckmäuserei
am Schwielowsee. Und selbst gegenwärtig steht, trotz behaupteter
Meinungsfreiheit, der Opportunismus in Blüte: man gibt sich cool oder singt im
Chor. Anstelle altmodischer Zensur sorgen wirtschaftliche Zwänge und redaktionelle
Übereinkünfte fürs Stillschweigen. Die Lehrlinge des Zeitgeistes halten auf
Tradition: ein marktgängiger Sekt heißt Fürst von Metternich, und vor Hannovers
Hauptbahnhof reitet noch immer ein Ernst August in Bronze.
Vor
mir liegt als Fotokopie das Protokoll des Staatssicherheitsdienstes. Was zu
vermuten ist: ich wünschte, es kämen mir gleichfalls alle Papiere zu Gesicht,
die, mich betreffend, der bundesdeutsche Nachrichtendienst und der
Verfassungsschutz seit Jahrzehnten gesammelt haben und unter Verschluß halten
könnten; worüber die Hauptabteilung XX/7 Auskunft gibt, ist lückenhaft und
bedarf gesamtdeutscher Ergänzung.
Natürlich
wurde am Schwielowsee nicht nur gestritten. In der geräumigen Villa, die
während der Naziherrschaft arisiert, der Legende nach irgend einem Filmstar aus
Ufa-Zeiten gehört haben mochte, schließlich Besitz eines Parteibonzen war, nun
aber verdienten Schriftstellern als Erholungsheim offenstand, saßen wir Eintopf
löffelnd am Mittagstisch und nachmittags bei Kaffee und Kuchen. In Pausen
schlenderten wir über die Wiese zum Seeufer. Leise Gesprochenes fand nicht ins
Protokoll: Honeckerwitze, auch solche, in denen Mielke als Schreckgespenst
komisch zu sein hatte.
Als
wir unter altwüchsigen Bäumen standen - waren es Ulmen oder Eichen? - und uns
kollegial plaudernd annäherten, ergab sich, daß, womöglich zu heftig
angestoßen durch staatsfeindliche Stichwörter, ein morscher, doch
schenkeldicker Ast aus einer der Baumkronen löste und keine zwei Schritt neben
mir aufschlug.
Ich
erinnere mich an allgemeines Erschrecken. Danach hätte man, weil ich
unbeschadet geblieben war, »gesamtdeutsche Freude« registrieren können, wären
Kant und Henniger nicht vorauseilend besorgt gewesen: Schaden für das
mittlerweile fragile Staatswesen DDR befürchtend, überboten sie einander mit
dem Erfinden fettgedruckter Schlagzeilen in den Zeitungen des kapitalistischen
Auslands, was alles dem Klassenfeind tauglich geworden wäre, falls mich der
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