Grass, Guenter
gemeinsam mit dem
Bruder, denn ohne ihn war er nur hälftig. So gewiß der Tod ist, Rückrufe ins
Leben bleiben jederzeit möglich. Er rief ihn herbei, wie auch mir dieser Trick
geläufig ist.
Und
schon sehe ich beide: längs einer von Ulmen gesäumten Allee kommen sie Seit an
Seit näher, trennen sich an einem Rondell, um einander wiederum nahe der Luiseninsel
zu treffen. Der eigentlich tote Wilhelm kommt mir belebter als sein Bruder
vor.
Es
will Frühling werden: ein knospendes Versprechen. Sie weisen auf
Schneeglöckchen, eine Uferweide. Jetzt reden sie: mal der eine, mal der andere.
Jacob mehr als Wilhelm. Offenbar hat sich in ihm eine Wörterflut gestaut. Beide
werden laut, zu laut, weil mit den Jahren schwerhörig geworden. Mit Gesten
gehen sie sparsam um. Woher hat Wilhelm Brotrinden, die er in Brocken den
Enten zuwirft?
Ich
nähere mich, umkreise sie, höre zu, will mich einmischen, lege ihnen das
Stichwort Freiheit als Köder nahe, rufe: Freiheitsgebot! Freiheitskriege!
Freibier!
Und
schon ist es Jacob, der meine Einwürfe aufnimmt, indem er, während Wilhelm
weiterhin die ihm folgsamen Enten füttert, mit dem lateinischen liber das Wort
frei einleitet, »gotisch freis, althochdeutsch fri« sagt er und kommt vom
freien Eigentum auf freien gleich brautwerben und heiraten. Seiner Meinung
nach berührt sich frei mit froh und freuen. Er spricht vom freigelassenen
Knecht und übersieht geflissentlich mich, seinen Stichwortgeber. Er erinnert
Wilhelm daran, wie vergeblich, weil von der Mehrheit überstimmt, seine Rede
gewesen sei, als er in der Paulskirche die Befreiung von jeglichem Ordensblech,
desgleichen von erblichen Adelstiteln und Adelsvorrechten gefordert habe: »Weg
damit!«
Dann
macht er sich frei von allzu bedrückenden Rückständen aus abgelebter Zeit,
entnimmt dem frühlingslauten Vogelgezwitscher das Wortpaar »vogelfrei«, sieht
sich mit Goethe »in freier luft«, lacht nun frivol, wie ich ihn selten habe
lachen hören, weist bei Logau »freie brüste« nach und spricht, weil frei auch
frech bedeuten kann, mit Luther von »freien dirnen«.
Wilhelm
hingegen ist nur die Natur frei und schön. Er zeigt auf Kastanienknospen, die
zu blühen versprechen, nennt Singvögel beim Namen, ist freigebig mit
Brotbrocken und erfreut sich an der den Tod leugnenden Frühlingsluft. Wortselig
läßt er die Freiheit ausufern. Es ist, als habe ihn nachträglich Frohsinn
überschwemmt.
»Gewiß«,
sagt Jacob und bleibt dem Ernst verpflichtet, »man kann aber auch zugleich vom
freien willen des menschen und von den freien Schwingungen des pendels
sprechen.«
Ich
versuche mit schulfrei, dienstfrei, dem Freizeitpark, der Freizeitgestaltung
und FKK-Stränden neuzeitliche Freiheitsräume zu erweitern, mache aus
Erwerbslosen freigestellte Arbeitskräfte und treibe weiteren Schindluder mit
dem schönen Wort.
Darauf
zitiert Wilhelm mit Lessing die Freidenkerei und wirft den Enten letzte Krümel
zu.
Und
Jacob brüllt seinem Bruder ins Ohr: »Freimut! der bei Schiller zu finden ist,
ist weit mehr als nur gedankenfreiheit.« Er läßt aus dem Freihafen, wie später
im Wörterbuch nachzulesen sein wird, die Freiheit zwei Spalten lang segeln:
»der älteste und schönste ausdruck für diesen begrif war der sinnliche
freihals, der kein joch auf sich trägt, freiheit ist uns der technische
ausdruck geworden, im gegensatz zu knechtschaft und Unterwürfigkeit.«
Nach
längerer, abschweifender, weil frei gehaltener Tiergartenrede, die immer
wieder den toten Bruder herbeizwingt, ihn an Wegkreuzungen ins Gespräch zieht
oder mit der lauten Stimme des Schwerhörigen zum Zuhörer macht und in deren
Verlauf er mich allenfalls als Stichwortgeber akzeptiert, findet Jacob über
den Brückenschlag einer Nebenbemerkung zwischen Gedankenstrichen - »ja, Bruder,
das waren wir einst: freiheitstrunken« - wieder ins Manuskript und in den Saal
voller hochbetagter Akademiemitglieder.
Dennoch
bleibt vorstellbar, daß ihm, noch während des toten Wilhelm gedacht wird und
dessen Verdienste um den Buchstaben D gewürdigt werden, die Göttinger
Protestation in den Sinn kommt, als die Brüder von ihrer Freiheit Gebrauch
machten, indem sie sich weigerten, den Eid auf die Verfassung zu brechen; wie
es mich, als ich vor vollem Haus der Akademie der Künste über die »Geschenkte
Freiheit« redete, in daneben laufenden Gedanken, die Wilhelms Artikel zum
Stichwort da und den Partikeln dabei und dafür folgten, bis zum damals und
dazumal schwemmte, als
Weitere Kostenlose Bücher