Grass, Guenter
entfaltet hielt ich sie. Die Außenseite gab Titel und
Schlagzeile preis. So kam es, daß sich auf überlieferten Fotos die Zeitung, die
ich sitzend in einem Abteil der Bundesbahn las, als ein extrem rechtes Blatt,
als »National- und Soldatenzeitung« auswies.
Ich
war auf Wahlkampfreise unterwegs und wollte wissen, was druckfrisch im Schwange
war. NPD nannte sich eine neugegründete Partei. Überall gewann sie Zulauf. Die
Zeitung, die ich las, galt als deren Hauspostille. Parolen gleich
Fanfarenrufen - »Deutschland erwache!« -, die dem mitreisenden Fotoreporter in
den Bildsucher geraten waren, hörte ich jeweils dort, wo jugendliche und
altbackene Neonazis laut und in Gruppen auftraten; sie tun es immer noch.
Und
als ich in Würzburg, der erzkatholischen Bischofsstadt ankam, brachten mich
zwei Jungsozialisten zum Ort der Veranstaltung. Vorbeugend meinten sie, es
könne womöglich zu Störungen kommen, auf Flugblättern werde dazu aufgefordert.
Schon
vorm Eingang zum Huttensaal stand auf einem Transparent in Frakturschrift zu
lesen: »Was sucht der Atheist in der Stadt des Heilige
Kilian?«
Hätte
ich mich vorher kundig machen und wissen müssen, wie jener irische Missionar,
der, weil erschlagen, zum Märtyrer wurde, wie Würzburgs Schutzpatron heißt?
Die
mich und den Heiligen betreffende Frage schallte mir gleichfalls im
vollbesetzten Saal entgegen. Sprechchöre hatten geübt. Und was sie geübt
hatten, verlangte nach Wiederholung. Nur Satz nach Satz kam meine
Wahlkampfrede gegen das Gebrüll an. Erst als es gelang, eine Pause, die sich
die Sprechchöre gönnten, zu nutzen, konnte ich die mir gestellte Frage
beantworten: »Ich suche Tilman Riemenschneider!«
So,
nur so, mit einem Rückruf ins sechzehnte Jahrhundert und mit Blick auf jenen
Bildhauer, der für die aufständischen Bauern Partei ergriffen hatte und
deshalb von den Knechten der Pfaffen gefoltert wurde, konnte der Saal
beschwichtigt werden. Keine Sprechchöre mehr, nur noch wenig Gezische.
Indem
mir Tilman Riemenschneider, der fromme, in Holz geschnitzte Wunder vollbracht
hatte, zur Seite stand, gelang es, meine Rede »Loblied auf Willy« unüberhörbar
den Jungwählern, zumeist Studenten, nahezubringen. Einige gaben sich mit
Bierzipfeln am Gürtel und farbigen Mützen als Korporierte zu erkennen. Zögernd
kam Beifall auf. Kaum Pfiffe. Danach signierte ich Plakate.
Auch
davon gibt es Fotos: ich offenen Mundes als Redner. Ich vor dem Plakat, drauf
mein Es-Pe-De krähender Hahn. Ich in der Menge. Ich am Bahnsteigrand sitzend
auf meinem Koffer, unterwegs wohin?
Oder
auf Fotos, die Mariechen geknipst hat: mit selbstgedrehter Zigarette am
Stehpult, drauf meine Olivetti. Oder vorm Zeichenbrett und Schneckenmotiv,
später vor tonfeuchten Skulpturen: Fischköpfe, als Göttin dreibrüstig Aua,
laufende Ratten und Ratten, die den aufrechten Gang üben.
Aber
auch mit wechselnden Frauen geknipst. Ich, mal lang-, mal kurzhaarig zwischen
mehr, immer mehr Kinder gestellt. Ich, erschöpft, mit leerem Gesicht, der Blick
verhangen, nichtssagend, weil aller Wörter verlustig gegangen.
Oder
mit Pfeife auf Fotos, die Ute, meine Ute belichtet hat: zu Fuß in Calcutta. Ich
vor wimmelnd bewohnten Ruinen, Kolonialbauten, aus denen Grünzeug wuchert, das
Fassaden sprengt, an denen Ranken klettern und den Verfall tarnen. Fremd
bleibend in der von landflüchtigen Bauern überfluteten Stadt, in deren
wachsenden Slums nicht fotografiert werden darf, doch erlaubt ist und von
Kindern bestaunt wird, wenn ich mit schnellem Stift gereihte Slumhütten, in
Gruppen hockende Flüchtlinge aus Bangladesh, gesammelte Flaschen gehäuft,
streunende Kühe, Krähen auf Müllbergen skizziere - wie Ludwig Emil Grimm, lange
bevor seine berühmten Brüder auf Photographien in würdiger Haltung erstarrten,
mit fleißiger Feder, dem weichen Blei, doch immer lebensnah, beide oder jeden
einzeln gezeichnet hat: hier Wilhelm noch pausbäckig jung, dort Jacob vorm
Fenster, wie er, den Kopf tief gesenkt, über Büchern hockt oder in den
Zettelkasten faßt.
Und
besonders gelungen scheint mir die Zeichnung aus dem Jahr dreiundvierzig zu
sein, auf der sie gestaffelt mit schattierendem Blei festgehalten sind, ein
Blatt, dessen feine Einstiche an den Umrissen der Profile vermuten lassen, daß
es als Vorlage für jene Radierung diente, die während folgender Jahre, weil
vom Verleger geschätzt, immer wieder als Werbung genutzt wurde. Erst später
entschloß sich der Verlag, die Brüder in
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