Grass, Guenter
Grimm aus den Räumen der
Akademie. Ich trage ihm, was auf dem Rednerpult liegen blieb, sein Manuskript
nach, damit es später gedruckt werden möge.
Erst
in der Ordnung seines Arbeitszimmers findet er zu sich zurück, das heißt: nach
kurzem Blick durch die offene Zwischentür in die leere Stube des Bruders,
kritzelt er Wörter und Ableitungen von Wörtern in Korrekturbögen der ersten
Lieferung für den dritten Band, die den Buchstaben E abhandeln. Sogleich sieht
er, daß ihm der Winzling es, abgeleitet vom lateinischen id und dem gotischen
ita, spaltenreich in die Länge geraten ist. Also kürzt er hier und da, schreibt
dann: »dies wörtlein es erfüllt heute, gleich dem artikel das, unsere gesammte
rede und ist allenthalben anzutreffen.«
Dazu
in Fülle Beispiele und Zitate, die ihm gleich Spatzen zufliegen, als habe er
Futter gestreut. Eingangs wieder und wie allzu oft Goethe: »es war ein herzigs
veilchen«. In Klopstocks Messias findet er »und dein auge wie ists zu dem tode
gerüstet?« und bei Luther gute Kürzungen: »dankte gott und brachs.«
Und
weiterhin korrigiert er in den Spalten zum es, streicht weg, erweitert, stellt
um, verliert sich aber bald im mittelalterlichen Wörtergestrüpp, kommt von
Neidhart auf Tristan, von Parzival auf Lohengrin, liest in der Nibelungen Not:
»ez weinte ouch manec meit« und bei Unland: »sprach es die Jungfrau fein«. Er
kann sich nicht genug tun. Jede Kürzung hat Weiterungen zur Folge.
Dann aber nimmt ihn wieder das F in Haft.
Oder
legte er eine Pause ein? Erholte er sich beim nächstliegenden G, allein des
Stichwortes grün wegen, oder bei weit entlegenen Buchstaben des Alphabets? Etwa
beim 0 oder P? Kann es sein, daß er lustlos in Zeitungen, der »Vossischen«
blätterte, weil gänzlich der Tagespolitik entfallen?
Eher
folge ich der Vermutung, Jacob zog mit einiger Neugier die Produkte der flugs
in Mode geratenen Porträtkunst, nämlich Photographien aus einer Sammelmappe,
womöglich ahnend, daß in kommender Zeit das Ph dem F weichen werde: Fotos
ungezählt, Fotos von jedermann, Fotos gerahmt, Fotoalben in jeder Familie. Und
jedes Fotoalbum ein Familiengrab.
In
Wilhelms bislang von keiner ordnenden Hand berührten Gelehrtenstube findet er
sie gesammelt. Sie liegen unter unfertigen Manuskripten, vergilbten Briefen, die
der Bruder mit Seidenband zu Bündeln geschnürt hat. Die Briefe tastet er nicht
an, öffnet aber die Mappe, und schon sehe ich, wie Jacob besonders aufmerksam
zwei ins Oval gebrachte Photographien in bräunlichem Ton betrachtet, die vor
wenigen Jahren im Atelier des den Brüdern empfohlenen Photographen Siegmund
Friedländer belichtet worden waren.
Er
und Wilhelm im Silberhaar. Doch immer noch, wie von Jugend an, gelockt und mit
wellig glatt fallendem Haar, wie auf den Kupferplatten Ludwig Emils verewigt. Des
Bruders trüber, sein strenger Blick. Wilhelm mit Binde unterm weichen, er mit
Kragen unterm energisch betonten Kinn. Beide fern der Mode gekleidet. Was einst
Zeichnungen und Radierungen ins Profil gebracht, kunstvoll verschleiert und
harmonisch angeglichen hatten, kommt durch die Frontalansicht der Photos ans
Licht: der Unterschied, die Distanz. Mußte der eine sich ständig
disziplinieren, gab der andere mehr und mehr der ihm angeborenen Schwermut
nach. Dem willensstarken Jacob bietet sich Wilhelm zum Vergleich an. Was
Photographien und Fotos sagen, entblößen, verraten.
Schnell
fix und fertig
hängen
sie auf Ämtern, werden veröffentlicht,
sind
zur Fahndung nach gesuchten Personen
paßbildgroß
freigegeben: frontal, im Profil.
Sie
überdauern in Familienalben,
die,
aus dem Feuer gerettet,
auf
der Flucht nicht verlorengingen,
die
gehütet werden seitdem.
So
haften sie immer noch,
weil
mit dem Schnellkleber Uhu gefestigt:
Photos
mit, Fotos ohne ph,
wie
vormals organisch ph für f stand,
als
althochdeutsch der Apfel noch Aphul hieß
und
sich das pf bei Zipfel und Knopf behauptete.
Jetzt
schreiben wir fotogen, fotoscheu.
Fast
alles wird fotografiert, erfaßt fürs Archiv.
Festgenagelte
Augenblicke, digitale Fangschüsse.
Vervielfältigt
bin ich und frei im Handel,
allseits
belichtet und ausgeliefert fortan.
Zum
Beispiel Fotoreportern. Sie waren schon fünfundsechzig dabei, als ich,
unterwegs nach Würzburg, in einem Abteil der Bundesbahn saß, die von Jacob
Grimm mit Wörtern, die alle dem Eisen anhängen, noch Eisenbahn genannt wird und
als neudeutsches Wort ins Wörterbuch findet.
Ich
las Zeitung. Breit
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