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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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ich mich Anfang Mai fünfundvierzig leichtverwundet in
der Lazarettstadt Marienbad fand.
    Alles
grünte, die Vögel sangen wie auf Kommando. Es kümmerte die Natur nicht, was
sonst geschah. Immerhin endete etwas. Immerhin wurde ein Datum gesetzt. Immerhin
brach mein Glaubensgerüst zusammen, hinterließ eine Leerstelle, weshalb ich am
Tag der bedingungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reiches kaum begreifen
konnte, was Freiheit bedeutet, was sie bewegen kann, wie teuer sie bei Verlust
wird. Nur was Furcht war, wußte ich, und daß sie nun weg zu sein schien. Schrieb
ich doch in meinem Redetext zum 8. Mai 1985: »Gleich nach der Gewißheit,
besiegt zu sein, bedeutete für mich und viele, die in benachbarten
Lazarettbetten lagen, die bedingungslose Kapitulation: Befreiung von Angst.
Mit der Entmachtung militärischer Vorgesetzter, die nur allmählich spürbar
wurde, begann jene gewohnte, zum Teil akzeptierte Unfreiheit zu schwinden, ohne
daß sich Freiheit, die große Unbekannte, zu erkennen gab.«
    Auch
für Jacob Grimm war dieses Wort, von dem er sagte, es gehöre »zu den denkmälern
der deutschen spräche«, immer nur fernes Ziel und deshalb in seinen Paulskirchenreden
erwünschtes Verfassungsgut gewesen. Fortwährend engten ihn Zwänge ein, die er
ertrug, in Demut und manchmal unter der Last stöhnend.
    So
nach dem Tod des Bruders. Klagte er doch in seiner Akademierede: »Wir haben
noch zuletzt gegen unseres lebens neige ein werk von unermeszlichem umfang auf
die schultern genommen, besser, dasz es früher geschehen wäre, doch waren lange
Vorbereitungen und zurüstungen unvermeidlich; nun hängt dieses deutsche
Wörterbuch über mir allein.«
     
    So
bleibt es. Kaum wendet er sich vom Stehpult, und während noch der Beifall
aller dem Tod nahen oder sich fern glaubenden Akademiemitglieder anhält, von
denen einige schlafen, nun aufschrecken und ihre Augen weiten, hat ihn bereits
wieder der Buchstabe F am Wickel. Verben überfallen ihn, Adjektive,
Substantive, in Unzahl die Partikel. Vom Faden kommt er auf fadenscheinig, aufs
Fädeln. Von fadennackend ist splitterfasernackt abzuleiten. Sätze lassen sich
mit dem Fadenknäuel bilden. Nach Wielands Einsicht ist der rote Faden der
Dichtung nicht zu fassen. Aufgezählt wird, was alles am seidenen Faden hängt,
was zu Faden geschlagen oder durchs Nadelöhr gefädelt werden muß, und wie man
beim Reden den Faden verlieren kann, wenn man sich nicht, wie Jacob zuvor noch
am Pult, ans Manuskript zu halten versteht: Wort für Wort, wie es ihm, zwisehen
Blicken in die nun unbelebte Gelehrtenstube des Bruders, aus der Stahlfeder
geflossen war.
    Später,
bereits umringt von lobpreisenden Mitgliedern der Akademie und um Antwort auf
teils unsinnige, teils tückische Fragen verlegen, hält er sich, ohne auf die
alphabetische Folge zu achten, an Wörtern aus dem Tierreich fest, reiht
Fohlen, Fuchs, Färse, Fasan, kommt vom Ferkel auf den Fisch, althochdeutsch
fisc, und hilft sich mit Zitaten weiter, nach denen manche weder Fisch noch
Fleisch sind. Bis zum Fischzug reicht seine Wortstrecke, die er mit Logau
schließt: »und fängt auch, dasz sein schif den fischzug kaum ertrage«.
    Dann
aber soll durch das dem lateinischen fenestra entliehene Fenster Ausblick
gewonnen werden, wobei ihm mit der ältesten gotischen Schreibung, augadauro,
der sinnlichere Ausdruck einleuchtet.
    Einem
der Akademiemitglieder, die ihn festzuhalten versuchen, erklärt er, weshalb
das für Dachfenster stehende Ochsenauge noch immer das gotische auge des
Hauses enthalte.
    Weil
mit dem fremdstämmigen Wort ausgesöhnt, gefällt ihm plötzlich, wie nach
Eingebung, die im süddeutschen Sprachraum geläufige Tätigkeit fensterln oder
fenstern. Er kichert, wie Greise kichern, sobald sie sich feuchtwarm erinnern,
bis ihn, vom Fensterbrett abwärts, das Wort Fall überfällt.
    Es
läßt ihn nicht los. Inwendig flüstert, was alles der Fall war, ist, sein
könnte: die Fallsucht, im schlimmsten Fall das.
    »In
meinem Todesfall soll...« ruft er lauter als gewollt und verstummt, weil
umringt von all den namhaften Männern, die vorhin noch seine Zuhörer waren, ihm
jetzt aber nah, zu nah sind: triefäugig, glatzköpfig, faltig geschrumpft, an
Zähnen verarmt, mummeln, brabbeln sie, wollen Hände schütteln, Schultern
klopfen, ihn fistelnd beschwatzen. Schon befürchtet er, in die Falle bloßer
Lobredner getappt, ihnen allzu gefällig gewesen zu sein.
    Als
sei er in falsche Gesellschaft geraten, flüchtet Jacob

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