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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Ohne den stabilisierenden Faktor der chromatischen Ideologie von Munsell wären wir genau wie sie – unwissend, dreckig und bestialisch.«
    »Stimmt es, dass sie ihre eigenen Babys essen?«, fragte Mrs Karmesin.
    »Absolut. Und alle anderen Babys, die sie zwischen die Finger kriegen. Es wird sogar behauptet, sie würden Babys nur zum Fressen produzieren.«
    »Verwilderte Graue sollen ein rudimentäres Farbempfinden haben? Wie ist das möglich?«, fragte ich.
    Mrs Schwefel bedachte mich mit einem eisigen Blick und sagte mit schicksalsschwerer Stimme: »Sie essen die Gehirne ihrer abgeschlachteten Opfer, um sich auf diese Weise die chromatischen Fähigkeiten einzuverleiben.«
    »Sie essen die Gehirne?«, unterbrach Mrs Ocker mit bebender Stimme das nachfolgende betretene Schweigen.
    »Daran besteht kein Zweifel«, murmelte Mrs Schwefel, »und zwar essen sie sie mit Löffeln – dem Instrument der Barbaren.«
    »Meine Güte!«, sagte Mrs Lemonsky. »Deswegen stehen in der Harmonie vielleicht auch keine Löffel auf der Liste der Produktionsgüter.«
    »Die Wege Munsells sind wahrlich unergründlich«, stellte Mr Karmesin fest.
    »Je eher wir das Problem mit dem Gesindel gelöst haben, ein für alle Mal«, setzte Mrs Schwefel nach, die endlich ihr eigentliches Anliegen loswerden wollte, »desto ruhiger können wir nachts in unseren Betten schlafen.«
    Ein Chor der Zustimmung begrüßte diese Äußerung, gefolgt von einer langen Pause, in der wahrscheinlich jeder darüber nachdachte, wie glücklich er sich schätzen durfte, bald in einer noch sichereren und geordneteren Gesellschaft zu leben. Nur ich nicht, ich schlief nachts auch jetzt schon ruhig in meinem Bett.
    »So ein himmelschreiender Blödsinn!«, ertönte eine laute, tiefe Stimme.
    »Wer wagt es, solche Sprache in den Mund … «, begann Mrs Schwefel, doch als sie sah, dass es sich um den Apokryphen Mann handelte, brach sie mitten im Satz ab und ließ den Rest in ein Hüsteln auslaufen; alle anderen starrten in ihre Gläser, an die Wand oder woandershin.
    Mrs Ocker befand, dass wir nun endlich Platz nehmen sollten.
    »Bitte zu Tisch!«, verkündete sie und klatschte aufmunternd in die Hände. »Immer Mädchen neben Junge neben Mädchen.«

Streitgespräche bei Tisch
    9.02.02.22.067 : Marmeladengläser, Milch- und Saftflaschen dürfen nur in einer Größe hergestellt und ausgeliefert werden.
    Wir gingen ins Esszimmer, doch der Apokryphe Mann war schneller als wir und hatte Mrs Ockers sorgfältig ausgedachte Sitzordnung durcheinandergebracht. Für einen Moment geriet die Gastgeberin außer Fassung, doch dann verkündete sie, der Platz des Apokryphen Mannes solle »als Zeichen der Anerkennung für die Freunde, die wir verloren haben«, frei bleiben, und sehr rasch hatten sich alle zu ihrer Zufriedenheit wieder neu gruppiert.
    Von Lucy und mir wurde natürlich erwartet, dass wir die Gäste bei Tisch bedienten, es waren auch keine Gedecke für uns ausgelegt. Ein interessantes Detail fiel mir noch auf, dass nämlich Sally Schwefel neben meinen Vater platziert war.
    »Die Expedition nach Rostberg war ja ein voller Erfolg«, sagte sie, aber es wirkte etwas gezwungen. »Und die Schnupfenepidemie klingt ab, glaube ich. Meinen Glückwunsch.«
    Mein Vater gab das Kompliment galant zurück.
    »Also!«, sagte Mrs Ocker in die Runde. »Bevor wir mit dem Essen anfangen, möchte ich auf die abwesenden Freunde anstoßen, die nicht an unserer Versammlung teilnehmen können. Die Rede ist von unserem kürzlich verstorbenen Vater und Ehemann, Robin Ocker, der uns sehr fehlt … « Sie unterbrach kurz, weil ihre Stimme zitterte, und ich merkte, dass Lucy sich verkrampfte. »Wir sollten aber auch ein anderes Mitglied des Kollektivs nicht vergessen, Travis Canary, der gestern Nacht abgängig blieb. Nie wieder wird er die einfachen Freuden unermüdlicher Arbeit genießen dürfen, nie wieder den Rausch der Kameradschaft, die unser Kollektiv auszeichnet. Positiv vermerken möchte ich die Ankunft unseres neuen Mustermanns Mr Russett sowie seines Sohnes Edward. Ich bitte Sie, die beiden herzlich zu begrüßen. Wir wollen ihnen ihren Aufenthalt hier bei uns so angenehm wie möglich machen.«
    Sie hob ihr Glas, alle murmelten: »Getrennt sind wir vereint«, und Lucy brachte eine kurze Lesung aus Munsells Harmonie dar. Nachdem wir das hinter uns gebracht hatten, servierten wir den ersten Gang: colorierter Cocktail von falschen Krabben.
    Als das Essen auf dem Tisch stand und Mrs Ocker darum

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