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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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gebeten hatte, man möge doch anfangen, hatte der Apokryphe seinen Teller bereits leergegessen und machte sich über den des Nachbarn her.
    »Vergangene Woche«, fing Mrs Ocker an, nachdem alle von der Vorspeise gekostet und sie vollmundig gelobt hatten – ganz wunderbar durchschnittlich, und dieses Pink, herrlich! –, »haben wir darüber diskutiert, warum die Korrosion von Metall für die Einstigen ein so großes Problem darstellte, und wir haben über eine Theorie gesprochen, die eine Erklärung für Kugelblitze hätte liefern können, es aber nicht tat. Als ersten Beitrag heute Abend wird Mrs Karmesin uns ein kleines Referat halten, das den Titel trägt … Wie lautet noch gleich der Titel, meine Liebe?«
    Mrs Karmesin stand auf.
    »Ich nenne mein Referat: Vergessene Eponyme und die Etymologie substantivischer Wörter .«
    Alle Augen richteten sich auf Mrs Schwefel, um ihre Reaktion zu ermessen. An und für sich durfte frei und ungehindert diskutiert werden, aber es war besser, die Zustimmung des Präfekten einzuholen. Schwefel jedoch sagte keinen Ton, sondern schrieb nur etwas in ihr Notizbuch, wahrscheinlich mit hellgelber Tinte, denn für uns sah es so aus, als hätte sie überhaupt nichts geschrieben.
    »Wer von Ihnen«, fing Mrs Karmesin an, »hat sich schon mal gefragt, warum folgende Wörter aus zwei Teilen bestehen: Morse-Alphabet, Faraday’scher Käfig und Fettuccine Alfredo?«
    Alle schüttelten den Kopf. Keiner hatte je darüber nachgedacht, auch ich nicht.
    »Ich werde darlegen«, führte sie aus, »dass ihr Ursprung in den Personen zu suchen ist, die sie geprägt haben oder bei ihrer Entdeckung beteiligt waren.«
    »Wer soll denn Fettuccine Alfredo entdeckt haben?«, schnaubte Mrs Schwefel. »Als Nächstes wollen Sie mir noch erzählen, Battenberg-Kuchen sei von einer Person namens Battenberg erfunden worden.«
    »So ist es«, sagte Mrs Karmesin und sah die Präfektin hasserfüllt an. »Genau das ist meine Absicht.«
    Mrs Karmesin hielt einen geistvollen Vortrag, der zwar durch das Ausbleiben von Beweisen jedem Widerspruch aus dem Weg ging, uns aber dennoch einen verlockenden Einblick in das Leben vor der EntFaktung bot, in eine Welt, die viel Interessantes zu bieten hatte, mehr noch – Sinn.
    Danach widmete man sich wieder dem Thema Hoch-Safran. Es wurde hervorgehoben, dass die Stadt seit dem Großen Ereignis gänzlich unberührt sei, folglich ein reiches Vorkommen von Altfarbenresten aufweisen müsse, das nur darauf warte, angezapft zu werden. Mrs Lapis-Lazuli behauptete, es gebe dort auch eine Bibliothek, uralt und mit Büchern bestückt, die seit langem auf der Liste der unerwünschten Titel stünden. Mrs Schwefel erwiderte, dies sei der typische »fantastische Blödsinn«, den Bibliothekare so gerne verzapften, und bekundete, wenn es nach ihr ginge und die Regeln nicht davorstünden, hätte sie Mrs Lapis-Lazulis Bibliothekarsmeute schon längst irgendwo hingeschickt, »wo sie der Gemeinschaft besser nutzt«, eine Meinung, die Mrs Lapis-Lazuli die Zornesröte ins Gesicht trieb, was vermutlich selbst den Ockers nicht verborgen blieb. Mr Karmesin entschärfte die Situation, indem er uns von Great Auburn berichtete, einem Ort in der Nähe, der völlig leergeräumt sei. Um die Farbreste aus dem Boden zu spülen, habe man Hochdruck-Wasserschläuche benutzt, die zwar Schäden im Boden verursacht hätten, aber die Abbaumethode mit dem geringsten Zeitaufwand seien. Gerade wollte er auf die Probleme beim Abtransport zu sprechen kommen, als die Nachtglocke ertönte. Fandango zündete den Lichtbogen draußen an, der flackernd und zischend zum Leben erwachte. Frisches weißes Licht strömte durch die großen Fenster, und die Luxferpaneele über den Fensterrahmen projizierten ein rechteckig gemustertes Lichtgespinst an die Decke.
    Lucy und ich räumten das Geschirr ab und kehrten mit dem Hauptgericht zurück. Nach einer Diskussion über die Ausweglosigkeit der Versuche, die Löffelfrage zu umgehen und einem Diskurs über die vertrackte Zufälligkeit prä-Epiphanischer Familiennamen stellte Mrs Ocker die Frage, ob jemand in den vergangenen vier Wochen auf irgendetwas Sonderbares gestoßen sei, das er der Gesellschaft gerne mitteilen möchte.
    »Darf ich etwas sagen?«, fragte ich und holte, als kein Einwand kam, Dorians Foto von Ost-Karmin bei Nacht hervor. Ich gab es meinem Vater, der es genau betrachtete, bevor er es weiterreichte.
    »Dieses Bild wurde vor einigen Wochen aufgenommen«, erklärte ich.

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