Grau - ein Eddie Russett-Roman
wie sehr beschränkt wir waren. Die wandernden Sterne am Nachthimmel waren nur ein Bruchteil eines viel größeren Verständnisses der Dinge, welches unwiederbringlich verloren war.
Ich saß auf meinem Stuhl, wunderte mich über mich selbst, und dann dämmerte es mir, die Einsicht, dass einfach alles an unserem Kollektiv irgendwie falsch war, durch und durch falsch. Sollten wir unser Leben nicht damit verbringen, Wissen anzuhäufen, anstatt Wissen zu verlieren?
»Aber warum bewegen sich die Sterne?«, fragte Mrs Karmesin.
»Sie bewegen sich nicht.«
»Sie bewegen sich nicht«, wiederholte Granny Karmesin.
»Haben Sie nicht eben gesagt … «
»Wir bewegen uns«, sagte Lucy in einer plötzlichen Eingebung. »Die Erde rotiert einmal am Tag um ihre Achse. Wenn man darüber nachdenkt – unsere eigene Sonne beschreibt ja auch einen Kreis um uns herum.«
Der Apokryphe nickte heftig, und es wurde still, als jeder darüber sinnierte, was diese Vorstellung bedeutete.
»Ich muss sagen, ich finde das alles sehr weit hergeholt, sehr weit«, stellte Mrs Schwefel klar, die sich zweifellos darüber ärgerte, dass wir es überhaupt wagten, über ein Thema zu diskutieren. »Es dürfte bekannt sein, dass der geistige Verfall von Granny Karmesin sie in unmittelbare Nähe von Variante G rückt. Aber was Sie sagen, kann gar nicht stimmen, denn genau in der Mitte der Ringe gibt es einen Punkt, und der bewegt sich überhaupt nicht.«
»Bögen«, sagte Mrs Lapis-Lazuli.
»Ich würde meinen«, erwiderte Granny Karmesin, nachdem der Apokryphe gesprochen hatte, »dass es ein ferner Stern ist, der mit der rotierenden Erdachse eine Linie bildet.«
Der Apokryphe formulierte selbstverständliche Wahrheiten mit einer Klarheit, die uns demütig werden ließ. Mein Vater drückte es am besten aus. Er sah Granny Karmesin unverwandt an.
»Seit über zwanzig Jahren besuche ich Versammlungen von Debattiergesellschaften. In der ganzen Zeit habe ich immer nur unzureichend durchdachte Theorien und auf schwachen Argumenten beruhende Vermutungen vorgesetzt bekommen. Heute Abend wurde uns handfestes Wissen vermittelt.«
»Ich hole den Reispudding«, sagte Mrs Ocker und lief aus dem Zimmer in die Küche.
»Vielleicht«, richtete sich Mr Lemonsky an den Apokryphen Mann, sah dabei aber Granny Karmesin an, »könnten Sie Ihren scharfen Verstand noch auf ein anderes Rätsel anwenden, mit dem wir uns seit einigen Jahren auf unseren wöchentlichen Treffen herumschlagen.«
Der Apokryphe gab keinen Ton von sich, doch Aubrey kam gar nicht dazu, weiterzusprechen, denn Lucy nutzte die kurze Pause, um eine Frage zu stellen, die sie persönlich beschäftigte.
»Was ist die Musik der Sphären?«
Der Apokryphe sah sie eine Weile an und sagte dann mit äußerstem Bedacht: »Früher einmal war Musik alles. Sie war die Antwort auf alle Fragen, erfüllte alle Bedürfnisse. Sie war Antrieb für Arbeit, Verkehr, Unterhaltung. Sie lieferte Behaglichkeit und Licht, sie brachte Information, Bücher, Kommunikation und Tod. Sie brachte sogar … Musik.«
Er gähnte, als würde die Sitzung ihn ermüden, zog ein Taschentuch hervor, packte etwas Essen hinein und spazierte aus dem Zimmer.
Bevor Granny Karmesin seine Antwort vollständig wiedergegeben hatte, machte Aubrey Lemonsky seinem Unmut Luft.
»Vielen Dank auch«, sagte er, an Lucy gewandt. »Da will ich ihn nach der Lösung des ewigen Rätsels fragen, warum Äpfel schwimmen und Birnen nicht, und dann kommen Sie daher und vergraulen ihn – Entschuldigung, sie – mit Ihrer törichten Idee von den harmonischen Pfaden, die, wie ich sagen darf, doch wohl von mehr als fragwürdiger Relevanz ist. Musik bringt … Musik!? Das ist doch lächerlich!«
Aubreys Unfreundlichkeit löste allgemeines Räuspern aus. Er war kurz davor gewesen, Lucy anzuschreien, und so etwas gehörte sich nicht.
Lucy, aufgebracht vor Empörung, erwiderte seinen Blick.
»Ihre Relevanz mag fragwürdig sein, Sir«, antwortete sie mit mühsam aufrechterhaltener Höflichkeit, »aber verglichen mit Ihrer Frage hebt sie doch unsere Diskussion auf ein unerhört anspruchsvolles Niveau.«
Sie hatte sich weit vorgewagt, zu weit für ihren Farbton – Lemonsky stand immerhin chromatisch deutlich über ihr –, doch wir alle waren Gäste im Haus der Ockers, insofern war ihr Benehmen zwar nicht akzeptabel, doch belangt werden konnte sie dafür nicht.
»Alles Firlefanz und dummes Zeug«, verkündete Mrs Schwefel, die offenbar meinte, überhaupt nicht auf
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