Grau - ein Eddie Russett-Roman
Präfektin eingetroffen war, das Notizbuch gezückt. Üblicherweise protokollierten die Präfekten Versammlungen wie diese für das Archiv der Fakultät, da gelegentlich Große, Wichtige Gedanken geäußert wurden. Zum Glück kam Sally Schwefel nicht in Begleitung von Courtland.
Sie postierte sich in der Mitte des Raums und wirkte heute auf mich nicht ganz so unangenehm wie sonst, aber das besagte nicht viel. An sich keine hässliche Frau, jedoch hatte das präfekturale Gehabe ihre körperliche Erscheinung in einer Weise vergiftet, die nichts als Misstrauen auslöste. Jetzt hatte sie meine ganze Aufmerksamkeit und die meines Vaters. Die übrige Gesellschaft hatte die Geschichte schon mal gehört, hielt aber dennoch respektvoll schweigend inne.
»Letztes Jahr habe ich meine Schwester in Yellopolis besucht«, sagte sie. »Es gab dort Probleme mit Gesindel, das in der Nähe siedelte und morgens und abends in der Dämmerung, wenn es keiner sah, Getreide an sich raffte. Deswegen wurden entlang der Außenmarkierungen Fallen aufgestellt, und erstaunlicherweise wurde auch jemand gefangen.«
»Wie sah es aus?«
»Ein schmuddeliges Biest. Ungewaschen, verlaust, schlechte Zähne, dreckiger Kittel, zerrissenes Kleid und ungeputzte Schuhe – subhuman, wenn Sie mich fragen.«
»Könnte es nicht auch ein Nachtabgang gewesen sein, der an fortgeschrittener Noctupsychose litt?«, fragte mein Vater, der, wie die meisten Menschen, die Wirkung von Nachtangst erlebt oder persönlich erfahren hatte: Zittern, Herzrasen, unzusammenhängendes Geschrei, Loslösung von der Realität und schließlich Wahnsinn.
»Es hatte keine Postleitzahl«, antwortete die Gelbe Präfektin und tippte sich dabei auf das rechte Schlüsselbein. »Ich habe nachgesehen, als das Wesen entkleidet wurde, um es abzuspritzen.«
»Konnte es sprechen?«, fragte Lucy.
»Nur ein gutturales Sprachgemisch«, sagte Schwefel fachmännisch und trank einen Schluck von ihrem Holundersaft. »Viele Substantive stammten aus der Gossensprache, wobei die grammatische Konstruktion durchaus zeitgemäß war. Die Wörter aber waren völlig falsch ausgesprochen, wie man es von Leuten kennt, die keinen Zugang zu Bildung haben. Teilweise konnte ich es verstehen, aber die Sprache war gespickt mit Obszönitäten der übelsten Sorte, sodass sich der Versuch, alles zu begreifen, gar nicht gelohnt hätte.«
»Ein Tier«, sagte Mr Lemonsky schaudernd.
»So könnte man sagen«, bestätigte Mrs Schwefel. »Aber seltsamerweise hat es mehrmals den Namen eines Mannes wiederholt. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte man meinen können, es wäre zu einer monogamen Beziehung fähig gewesen.«
Sie erntete höfliches Lachen für diese etwas ausgefallene Phantasie, nur ich fiel in das Gelächter nicht ein.
»Jetzt kommt das Sonderbare«, fuhr Mrs Schwefel fort. »Die Kreatur hatte in der Falle einen Teil ihres Fußes verloren, und die Wunde hatte sich schon nach einem Tag infiziert. Sie wurde matt und blass, stöhnte ganz jämmerlich, dann wurde sie bewusstlos und starb. In drei Tagen war alles vorbei.«
»Soll das heißen, sie hatte sich keinen Traumatischen Mehltau eingefangen?«, fragte Lucy.
»Keine einzige Spore weit und breit. Jede zivilisierte Person, die sich einen vergleichbar schlimmen körperlichen Schaden zugezogen hätte, wäre im Nu von der Variante T dahingerafft worden.«
Die Gesellschaft verstummte, als ihr allmählich dämmerte, dass das Gesindel möglicherweise immun gegen die Fäulnis war; nur Granny Karmesin schwieg nicht, sie teilte jedem mit, sie habe gerade eine Biene vorm Fenster vorbeifliegen sehen.
»Ich habe gehört, dass einige Dörfer sogar Handel mit dem Gesindel treiben«, verkündete Mrs Ocker als perfekte Gastgeberin in die entstandene Gesprächslücke hinein. »Meine Schwester Betsy wohnt in Hennerington auf der Honigbrötchen-Halbinsel, und sie sagt, dort würde das Gesindel Säcke mit sortierten blauen Altfarben an den Außenmarkierungen abstellen, zum Tausch gegen Gries, Ovomaltine und Soßenpulver.«
»Wenn das zutrifft«, sagte Aubrey, »muss man die erstaunliche Schlussfolgerung ziehen, dass Gesindel ein rudimentäres Empfinden für Farbe hat.«
Alle nickten wissend.
»Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Homo feralensis «, merkte Mrs Schwefel an, »und ich bin ein strikter Anhänger der Theorie, dass es sich bei diesen Vertretern um Graue handelt, die schlichtweg eine kleine Stufe tiefer gesunken und der Wildheit verfallen sind.
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