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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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mir plötzlich lustig vor, selbst die miesen Dinge, von denen es nicht wenige gab. Constance’ Wankelmut zum einen und dass ich das sonderbare, unfreundliche Mädchen mit der Stupsnase nicht mehr wiedersehen würde. Aber ich war Grünlinsen nicht gewohnt, und plötzlich erscholl Händels Messias in meinem Kopf.
    »Sachte, Freundchen«, sagte Travis und klappte die Dose wieder zu.
    »Wie bitte?«, erwiderte ich. Meine Ohren waren ganz taub von der Musik.
    Er lachte und erkundigte sich, ob es Schubert sei.
    »Händel«, sagte ich, und als meine Hemmschwelle durch den Limone-Genuss noch weiter gesunken war: »Weswegen hat man dich zum Reboot geschickt?«
    Er überlegte einen Moment, bevor er antwortete.
    »Weißt du, warum Einwohner davon abgehalten werden, innerhalb des Kollektivs den Wohnort zu wechseln?«
    Ich wusste, dass es Reisebeschränkungen gab, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, den Grund zu hinterfragen.
    »Ich nehme an, um die Verbreitung von Mehltau und respektlosen Witzen über Purpurne zu verhindern.«
    »Es soll verhindern, dass die Post im Chaos versinkt.«
    »Das ist eine unsinnige Unterstellung«, erwiderte ich.
    »Wirklich? Der über Jahrhunderte unregulierte Wohnortwechsel hat zu einer großen Belastung geführt. Es kann passieren, dass Briefe unendlich oft nachgesendet werden, weil die Postzustellung nicht nur deine eigenen, sondern auch die Umzüge aller deiner Vorfahren innerhalb des Kollektivs nachverfolgen muss.«
    Das stimmte. Die Russetts waren erst zweimal seit ihrer Herabstufung umgezogen, deswegen erhielten wir die Post meist innerhalb von ein paar Tagen. Die altehrwürdigen und weit gereisten Oxbloods mit ihrer prestigeträchtigen Postleitzahl SW 3 dagegen beanspruchten einen Siebenundachtzig-Stationen-Nachsendedienst und konnten von Glück reden, wenn sie ihre Post innerhalb von neun Wochen bekamen.
    »Ein bisschen verrückt«, räumte ich ein, »aber es funktioniert doch, oder?«
    »Ganz und gar nicht. Wenn du oder einer deiner Vorfahren häufiger als einmal an ein und demselben Ort gelebt habt, verweist der Nachsendedienst standardmäßig auf die vorherige Nachsendung, und das Ganze geht von vorne los. Drei Viertel aller Postdienste gehen dafür drauf, die Post zu bewegen, die in Nachsendeschleifen steckt und überhaupt nie zugestellt wird. Aber der größte Blödsinn kommt erst noch: Die Betriebsparameter der Post sind in den Regeln festgelegt und können nicht verändert werden, deswegen hat die Zentrale Privatreisen eingeschränkt, um die Postdienste zu entlasten.«
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagte ich. Das Limone hatte mir die Zunge gelockert.
    »So lauten die Regeln«, sagte der Gelbe. »Und die Regeln sind unfehlbar, wie du weißt.«
    Auch das stimmte. Die Worte Munsells waren die Regeln, und die Regeln waren die Worte Munsells. Sie bestimmten all unser Tun und Handeln, und sie hatten dem Kollektiv fast vier Jahrhunderte Frieden beschert. Manchmal waren sie tatsächlich absurd – die Verbannung der Zahl zwischen zweiundsiebzig und vierundsiebzig war so ein Fall, und bisher hatte noch keiner erschöpfend erklären können, warum es verboten war, Schafe zu zählen oder Akronyme zu benutzen. Aber so waren nun mal die Regeln, und vermutlich aus gutem Grund – auch wenn der nicht immer ganz ersichtlich war.
    »Und wo kommst du jetzt ins Spiel?«, fragte ich.
    »Ich habe früher in der Hauptsortieranlage in Kobaltstadt gearbeitet. Ich habe versucht, die Regeln zu umgehen. Ich hatte ein Schlupfloch gefunden, um die Nachsendungen an längst verstorbene Empfänger zu stoppen. Als das schiefging, habe ich eine Beschwerde an die Zentrale geschrieben. Die hat mir eine ihrer üblichen Formbriefe geschickt: ›Ihre Eingabe wird bearbeitet.‹ Nach dem sechsten Brief habe ich aufgegeben und draußen vor dem Postamt drei Tonnen unzustellbare Postsendungen angezündet.«
    »Das muss ja ein irres Feuer gewesen sein.«
    »Wir haben Kartoffeln in der Glut gebraten.«
    »Ich habe mal eine bessere Methode fürs Schlangestehen vorgeschlagen«, sagte ich. Es war ein halbherziger Versuch, Travis zu zeigen, dass er mit seinen radikalen Tendenzen nicht allein stand. »Eine einzige Schlange beim Mittagessen, und immer der, der vorne steht, geht zum nächsten frei gewordenen Austeiler.«
    »Und? Wie ist das angekommen?«
    »Nicht besonders gut. Ich musste sogar dreißig Meriten Strafe wegen ›Beleidigung der schlichten Schönheit der Warteschlange‹ zahlen.«
    »Du hättest deinen Vorschlag als

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