Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
Vom Netzwerk:
die Mitgift aushandelten, besonders fortschrittlich denkende Eltern räumten ihnen sogar ein Vetorecht ein.
    Wir ließen das Tal hinter uns, da tauchte auf der linken Seite, am anderen Flussufer, eine scheinbar erst kürzlich verlassene Stadt auf. Ratternd, ohne anzuhalten, fuhren wir vorbei, doch den Namen des Bahnhofs konnte ich gerade noch erkennen: Rostberg. Der Bahnsteig war mit Tierexkrementen und vom Wind angelandeten Erdkrumen buchstäblich übersät, und in den Ritzen zwischen den Gehwegplatten wucherten einträchtig Gras und Unkraut. Seit man den Ort preisgegeben hatte, war offenbar alles unberührt geblieben. Auf den Kantinentischen des Bahnhofs standen noch Tassen und Teller, und im Warteraum, unter einem lecken Dach, verrottete ein Stapel Lederkoffer langsam zu schwarzem Mulch. Dahinter lag die Stadt, und abgesehen davon, dass hier und da ein paar Dachziegel und Fenster fehlten, sah sie so aus, als wäre sie bis vor maximal etwa fünf Jahren noch bewohnt gewesen.
    Wir rollten durch Rostbergs aufgegebenes Ackerland, vorbei an ein paar Faraday’schen Käfigen und an Feldern, die jetzt mit hohem Gras, Buschwerk, Dornensträuchern und jungen Bäumen bedeckt waren. Wildwuchs hatte sich breitgemacht, nomadische Megafauna die Steinmauern eingerissen. Selbst die Eisenstruktur des Gewächshauses war unter der doppelten Einwirkung des Wetters von außen und dem starken Pflanzenwuchs von innen zusammengebrochen, der Ast eines unbeschnittenen Apfelbaums hatte mehrere Glasscheiben durchstoßen. Ohne menschliches Eingreifen wäre die Stadt in zwanzig Jahren unrettbar verloren. An einem unbemannten Bahngatter verließen wir die Stadtgrenze von Rostberg und fuhren dann am Rand eines sehr breiten Tals entlang, durch eine öde Wildnis, nur hin und wieder aufgelockert durch Waldflächen und Rhododendron, der hier sogar in noch größeren Mengen wuchs. Unterwegs, im Vorbeifahren, fielen mir einige mehr oder weniger versteckte Verweise auf die Einstigen auf: ein langer Abschnitt einer perfekten, vollkommen glatten Fahrbahn; einige verfallene Gebäude, die dem völligen Einsturz widerstanden hatten; die Reste einer Stahlbrücke, allein auf weiter Flur, da der Fluss, den sie einst überspannt hatte, sich schon lange einen anderen Lauf gesucht hatte; und, der spektakulärste Anblick: ein Telefonhäuschen aus Eisen, von Wind und Regen zu etwas sehr Filigranem gegerbt.
    Nach weiteren zwanzig Minuten tauchten wir erneut in ein tiefes Tal, überquerten den Fluss und passierten eine V-förmige Scharte in den Bergen. Und dann, als die Bäume spärlicher wurden und sich der Rauch und der Qualm vorübergehend lichteten, erhaschte ich einen ersten Blick auf Ost-Karmin: die Zwillingsschornsteine aus Backstein, das Wahrzeichen der Linoleumfabrik, wie ich später erfuhr. Der Zug glitt zwischen den Außenmarkierungen hindurch, überquerte wieder den Fluss, drosselte das Tempo für das Viehgatter und fuhr in das ordentlich bestellte Land des Subkollektivs ein. Ost-Karmin nahm eine Fläche von ungefähr fünfzig mal fünfzehn Kilometern ein und bildete den mittleren Teil eines weiten fruchtbaren Tals, im Osten umgeben von sanften Hügeln, im Norden und Westen von höheren Bergen. Ich konnte gut verstehen, warum es hier eine Siedlung gab. Es war ein idyllischer Ort, lieblich, überschaubar, und obwohl auf der Wetterseite des Landes und in Höhenlage, schien es doch wärmer und vegetationsreicher, als ich es mir vorgestellt hatte.
    Die Bahnstation befand sich gut einen halben Kilometer außerhalb des Dorfes, das ziemlich tief lag, mit Ausnahme des allgegenwärtigen Flakturms, der neben den Perpetulit-Fahrbahnen wahrscheinlich das sichtbarste Relikt der Einstigen war. Warum im ganzen Land diese robusten, fensterlosen Türme errichtet worden waren, dafür hatte sich bis heute keine zufriedenstellende Erklärung gefunden, auch nicht, wie sie zu ihrem Namen »Flak« gekommen waren. Ost-Karmins Turm hatte zudem noch eine nicht standardmäßige kuppelartige Konstruktion auf dem Dach.
    »Schon da?«, brummte mein Vater, nachdem ich ihn wach gerüttelt hatte. Er stand auf, nahm unsere Taschen aus der Gepäckablage und stellte sie in den Gang. Dann wandte er sich an mich.
    »Wie lange sind wir jetzt schon Vater und Sohn, Eddie?«
    »Solange ich denken kann.«
    »Genau. Also merk dir: Benimm dich! Und immer einen klaren Kopf behalten. In den Städten der Randzonen wird das Regelbuch manchmal etwas anders ausgelegt, als wir es gewohnt sind. Man kann hier

Weitere Kostenlose Bücher