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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Die Frau starrte uns irgendwie schräg an.
    »Das war Lucy Ocker«, sagte unser Fahrer, sobald wir die Frau hinter uns gelassen hatten. »Mr Ockers Tochter. Ein komischer Vogel.«
    »Was macht sie denn mit dem Pendel?«
    »Sie sucht harmonische Pfade . Musikalische Energie, die durch das Kollektiv fließt, so nennt sie das.«
    »Und was sagen die Präfekten dazu?«
    »Sie finden sie ein bisschen sonderbar«, antwortete er achselzuckend. »Aber der Glaube an sonderbare Dinge verstößt nicht gegen die Regeln, solange es ein Freizeitvergnügen bleibt und man nicht versucht, andere davon zu überzeugen.«
    Dad drehte sich noch mal nach ihr um, aber das Mädchen war schon wieder ganz auf ihr Pendel konzentriert.
    Kurz hinter der Brücke erklommen wir einen Anstieg, und recht bald kam auch die Stadt in Sicht. Es war eine geduckte, netzartige Ansammlung weißgetünchter Mauern und Wände, darüber eine Silhouette aus Dächern, die mit Heliostaten, Schornsteinkappen und Wasserboilern bespickt war. Zwischen uns und der Stadt erstreckte sich eine kahle Landschaft aus niedrigen, grasbewachsenen Erdhügeln, durchsetzt mit vereinzelten Mauerwerksresten und verwittertem Beton, aus dem die unvermeidlichen verrosteten Eisenstreben ragten. Ost-Karmin, obwohl in der äußersten Randzone des Kollektivs, musste einst sehr groß gewesen sein. Zu Hause in Jade-unter-der-Limone konnte man die Straßen mit verlassenen Häusern an einer Hand abzählen, doch diese unwirtliche Landschaft hier dehnte sich fast einen Kilometer in alle Richtungen aus.
    »Ost-Karmin ist nur noch einen Bruchteil so groß wie früher«, führte Stafford weiter aus. »Die EntFaktung war in diesen Breiten nicht ganz so durchgreifend. Man findet immer noch Gebrauchsgegenstände, die fast vollständig erhalten sind. In meiner Freizeit restauriere ich antike Büroausstattungen. Ich habe sechs funktionstüchtige Tacker und einen Matrizendrucker von Gestetner. Ich kann konkurrenzlos schnell lochen. Und ich bin im ganzen Sektor berühmt für mein Rezept für schwarze Tinte.«
    Wir durchfuhren die wellenförmige Landschaft, in der der Grundriss der untergegangenen Stadt an den kreuz und quer verlaufenden grasüberwucherten Straßen mit den rostzerfressenen eisernen Briefkästen und Lampen hier und da noch gut zu erkennen war. Bäume oder Büsche wuchsen hier kaum, denn dieses Gebiet wurde traditionell als Weideland genutzt und war für die Unterbringung der Einstigen reserviert, sollten einige von ihnen zurückkehren. Lange Zeit hatte man vermutet, die Häuser stünden einfach leer und warteten ab. Doch Zeit, Wetter und Vernachlässigung hatten ihren Tribut gefordert, und nur die bewachsenen Erdhügel waren übriggeblieben sowie die unantastbare Regel, sie so zu belassen. Keiner glaubte ernsthaft, dass die früher mal zahlreichen Einstigen je zurückkehren würden, aber Regel ist Regel.
    »Was sagen Sie zu unserer Knisterfalle?« Stafford wies auf ein großes Gebilde, das auf den Flakturm gesetzt worden war.
    »Beeindruckend«, murmelte ich.
    »Die Präfekten, besonders Mrs Schwefel, nehmen die Gefahr durch Blitzeinschlag sehr ernst«, erklärte der Gepäckträger. »Die Falle ist erst seit Winternox in Betrieb und hat schon über hundert Mal angeschlagen.«
    Der Blitzköder bestand aus einem Holzgitter, auf das ein kuppelartiger, bronzener Attraktor von gut neun Metern Durchmesser montiert war. Da fast jedes Dach im Kollektiv mit einem Tageslichtkollektor aus Metall ausgerüstet war, waren die Häuser sehr anfällig für verirrte Blitze, die an den Justierstangen entlang nach unten gelangten und ein elektrisches Chaos im Haus anrichteten. Einige der unglücklichen Bewohner verschmolzen dann zu einer metallischen Masse, andere verdampften halb, wieder andere verstarben in ihren Betten, Augäpfel und innere Organe zu einer Art Minestrone verkocht. Jede Woche fanden sich schauerliche Berichte und unheimliche Fotos darüber im Spectrum .
    »Blitzschutzmaßnahmen sind bei Ihnen sicher auch ein großes Thema«, sagte Stafford.
    »Unser Stadtrat beschäftigt sich mehr mit Schwanattacken, aber das Thema Blitzeinschlag wird natürlich nicht vernachlässigt«, antwortete mein Vater. »Wir haben eine Flotte von sechs speziell ausgestatteten Fords mit einem Bronzeattraktor, der auf einem Pylon im Fahrzeuggestell verankert ist. Die werden eingesetzt, um Gewitter abzulenken, wenn die Richtung und die Schwere des Sturms bekannt sind.«
    »Wir haben etwa fünfzehn Kilometer windwärts von

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