Grau - ein Eddie Russett-Roman
sehr schnell in Fettnäpfchen treten.«
Ich nickte, und dann sahen wir die beiden Schornsteine größer und größer werden, bis wir schließlich mit quietschenden Bremsen, zischendem Dampf und einer Dunstwolke, die sich in der warmen Luft im Nu auflöste, in Ost-Karmin ankamen.
Ost-Karmin
2.4.01.03.002: Einmal gegebenes Feedback darf nicht modifiziert werden.
Am Bahnhof warteten ein Bahnhofsvorsteher, ein Güterabfertiger, ein Postbote und eine Gelbe Ankunfts-Aufseherin, die zu protokollieren hatte, wer ausstieg. Der jugendliche Bahnhofsvorsteher trug ein Blaues Farbkennzeichen an seiner Uniform und warf dem Fahrzeugführer vor, der Zug habe eine Minute Verspätung, er müsse Meldung machen. Der Fahrzeugführer erwiderte, es sei in gleichem Maße der Fehler des Bahnhofsvorstehers, da kein substantieller Unterschied bestehe zwischen einem Zug, der an einem Bahnhof ankomme, und einem Bahnhof, der an einem Zug ankomme, worauf der Bahnhofsvorsteher sagte, ihm könne man keine Schuld geben, da er keine Kontrolle über die Geschwindigkeit des Bahnhofs habe. Der Fahrzeugführer warf daraufhin ein, der Bahnhofsvorsteher habe Kontrolle über die Platzierung des Bahnhofs, und wenn er nur tausend Meter näher an Zinnober gelegen wäre, gäbe es das Problem nicht. Darauf erwiderte der Bahnhofsvorsteher, falls der Fahrzeugführer die Verspätung nicht auf seine Kappe nähme, würde er den Bahnhof noch tausend Meter weiter von Zinnober entfernt verlegen, wodurch der Zug nicht nur verspätet, sondern überfällig sein würde, was strafbar wäre.
Der Postbote verfolgte grinsend den Streit und tauschte dann den Packen eingehender Post gegen den Packen ausgehender Post, bevor er sich wortlos auf den Rückweg in den Ort machte. Der Güterabfertiger blieb unbeirrt, ging zu den Flachwagen am Zugende, um die Beladung mit Linoleum und die Entladung des Rohmaterials zu beaufsichtigen.
Wir waren die einzigen Passagiere, die ausstiegen, die Ankunfts-Aufseherin hatte also nicht viel zu tun.
»Postleitzahl und Abfahrtsort?«, fragte sie ohne jede Vorrede.
Mein Vater nannte ihr unsere Postleitzahlen und den Namen unseres Heimatortes, und sie notierte die Angaben in ihrem Buch. Sie war Mitte zwanzig, hatte rundliche Formen und trug ein knöchellanges Kleid. Von den sechsundzwanzig zulässigen Bekleidungsvarianten für Frauen war es dieses Modell, das für die kürzeste Zeit in Mode gewesen war. Eigentlich sah es nicht mal aus wie ein Kleid, sondern eher wie ein Rundzelt auf Füßen, und wie häufig bei der Sorte Gelber, zu der sie offensichtlich gehörte, und die ihre blutleere Farbe mit einem geradezu obszönen Stolz tragen, war das Kleid mit synthetischer Farbe getränkt. Ihre Zugehörigkeit war unverkennbar, und sie wollte es so.
»Ich bin die Urlaubsvertretung für Robin Ocker«, sagte mein Vater und schaute sich um. »Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er uns abholt.«
Die Gelbe musterte ihn misstrauisch.
»Kannten Sie ihn?«
»Wir sind zusammen zur Chromatikologen-Schule gegangen.«
»Ach so«, sagte die Gelbe und versank in Schweigen.
»Und?«, fragte mein Vater in die peinliche Stille hinein. »Ist überhaupt jemand da, der uns abholt?«
»Wie man’s nimmt«, antwortete sie, ohne uns weitere Information zu geben. Für jede andere Farbe hätte ihr Benehmen als ausgesprochen rüde gegolten, bei Gelben war das jedoch Standard.
Mir fiel wieder ein, dass Travis mir zehn Meriten schuldete. »Im Zug hält sich ein Rebooter versteckt«, sagte ich.
Die Gelbe sah mich an, dann zum Zug, dann marschierte sie ohne ein weiteres Wort davon.
»Das war gemein von dir«, flüsterte mein Vater. »Habe ich dir nicht beigebracht, dass wir Russetts niemals petzen?«
»Er hat mich dafür bezahlt. Es springen für uns beide je fünf Meriten dabei raus. Der Junge heißt Travis Canary. Er hat drei Tonnen nicht zugestellter Postsendungen verbrannt, und dann hat er Kartoffeln in dem Feuer gebraten.«
»Vor deiner Erklärung war das Leben halb so kompliziert.«
Eine Piepsstimme ertönte hinter uns, und wir zuckten zusammen.
»Willkommen in Ost-Karmin.«
Eigentlich hatten wir Robin Ocker oder wenigstens einen Präfekten zu unserer Begrüßung erwartet, aber es war weder der eine noch der andere gekommen. Der Mann, der uns ansprach, war ein Gepäckträger. Abgesehen von dem Affront, dass man uns behandelte wie gewöhnliche Graue, war der Mann immerhin sehr gut gekleidet. Er trug eine makellos gebügelte Uniform, war etwa mittleren
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