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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Alters und hatte eine freundliche Art, als hätte man ihm gerade einen sehr lustigen Witz erzählt.
    »Mr Russett und Sohn?«, erkundigte er sich und sah uns abwechselnd an. Mein Vater bejahte, und der Gepäckträger verneigte sich höflich. »Stafford G8. Der Oberpräfekt hat mich gebeten, Sie zu Ihrem Quartier zu bringen.«
    »Dann haben die Präfekten also keine Zeit.«
    »Oh, Schreck«, murmelte er, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass eine Begrüßung ohne Beisein eines Präfekten möglicherweise eine Kränkung darstellen könnte. »Bitte, interpretieren Sie nichts hinein. Dienstagnachmittags spielen sie immer gemischtes Doppel.«
    »Croquet oder Tennis?«
    »Scrabble.«
    Dad und ich wechselten Blicke. Wir sahen uns in unserem Verdacht bestätigt, dass ein Hang zur Flegelhaftigkeit die Randzonen korrumpiert hatte. Noch während wir darüber nachdachten, bemerkte der Gepäckträger Travis, der mit der Gelben Frau auf uns zukam.
    »Wer ist das?«, sagte er und verstieß, indem er eine Konversation eröffnete, bereits gegen das Protokoll.
    »Er hat Kartoffeln abgebrannt«, verriet Dad ihm, »und dann hat er in der Asche nicht zugestellte Post gebraten.«
    »Tatsächlich?«, sagte Stafford. »Komischer Typ. Ich hätte es umgekehrt gemacht.«
    »Bei allem Respekt«, hörten wir Travis sagen, als die beiden näher kamen, »ich kann beim besten Willen nicht erkennen, inwiefern eine schlecht sitzende Krawatte das Kollektiv untergraben kann.«
    Es war sarkastisch gemeint, aber die Gelbe verstand keinen Spaß.
    »Ein schlampig geknoteter halber Windsor ist das erste Anzeichen fortschreitender Nachlässigkeit«, entgegnete sie in dem herablassenden Ton, mit dem Gelbe Regelverstöße ahnden. »Und die Widrigkeit zu ignorieren würde den Eindruck vermitteln, unpassende Kleidung sei hinnehmbar. Morgen sind es ungeputzte Schuhe, übermorgen loses Mundwerk, Angeberei und Unhöflichkeit. Bevor man sichs versieht, würde die Disharmonie alles demontieren, was wir kennen und schätzen.«
    Dann sagte sie noch, er sei eine Schande für seinen Farbton, und machte sich zu Fuß mit ihm auf den Weg ins Städtchen.
    »Wer war die Gelbe?«, fragte mein Vater.
    »Miss Bunty McMostrich«, erklärte Stafford mit einem missbilligenden Naserümpfen. »Hilfs-Petzerin und unermüdliche Unterstützerin von Sally Schwefel, der Gelben Präfektin. Bunty ist ein Ekelpaket und absolut nicht vertrauenswürdig. Wenn ich Ihnen sage, dass sie noch die netteste Gelbe im Amt ist, dann können Sie sich vorstellen, wie schlimm die anderen sind.«
    »Noch der zahmste unter den Piranhas also?«
    »Erraten. Wo wir gerade von Piranhas reden: Hüten Sie sich vor Mrs Schwefels Sohn. Er heißt Courtland, und er ist der größte.«
    »Der größte?«
    »Unter den Piranhas. Er und Bunty sollen heiraten, sobald Courtland sich endlich dazu durchringen kann, ihr einen Antrag zu machen. Am besten geht man ihm aus dem Weg.«
    Der Gepäckträger nahm unsere Koffer und stellte sie hinten auf sein Fahrradtaxi. Wir nahmen vorne unsere Plätze ein, und er radelte zügig los auf der glatten Perpetulit-Fahrbahn, die uns an der Fabrik vorbeiführte. Aus dem tiefsten Inneren vernahm ich die Geräusche von Arbeit, ein Hämmern und Schleifen, während in der Luft ein scharfer Geruch hing, wie von verbranntem Bratöl.
    »Jedes Fleckchen Linoleum, über das Sie je in Ihrem Leben gegangen sind, wurde hier produziert«, verkündete Stafford stolz. »00 427 richtete Ost-Karmin die Gute-Laune-Messe aus. Das Linoleum-Haus war Attraktion Nummer eins. Ein Haus ganz aus Lino. Speziell zu diesem Anlass hat man sogar ein neues Lebensmittel erfunden, das Keksoleum. Das ist heute noch eine lokale Delikatesse.«
    »Schmeckt es?«
    »Fehlenden Geschmack macht es mit Haltbarkeit wett. Wir haben hier auch ein Linoleummuseum. Möchten Sie es rasch besichtigen? Ich mache die Führungen.«
    »Vielleicht später.«
    »Das sagen alle«, antwortete der Gepäckträger geknickt. »Was dagegen, wenn ich meine Krawatte ein bisschen lockere? Es ist heiß heute.«
    Dad gab ihm die Erlaubnis, und wir gondelten weiter. Es radelte sich leicht auf der ebenen Fahrbahn, und nach einigen Minuten kamen wir an eine steinerne Bogenbrücke, neben der ein verwittertes Schild stand: »Willkommen in Ost-Karmin«. Im Vorbeifahren sah ich eine junge Frau mit langen dunklen Haaren neben der Straße. Sie hielt ein Pendel hoch und ließ es über ihrer Handfläche kreisen, auf dem Brückengeländer lag aufgeschlagen ein Notizbuch.

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