Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
Vom Netzwerk:
Höherstehenden die Stirn bot.
    »Wenn Ihr Sohn nicht bereit oder gewillt ist, einen einfachen Auftrag zu erledigen, dann können wir den Gelben bitten, in der Sache zu vermitteln«, drohte der Mann jetzt und deutete mit einem Kopfnicken zu dem Gelben Passagier. »Es sei denn«, ergänzte er, als ihm plötzlich der Gedanke kam, er könnte einen entsetzlichen Fehler begangen haben, »ich hätte die Ehre, einem Präfekten gegenüberzusitzen.«
    Mein Vater war kein Präfekt. Sein Status als Senior-Aufseher war sogar nur ehrenhalber und mit keiner Machtbefugnis verbunden. Doch er hatte etwas, was sie nicht hatten: Namensanhängsel. Er funkelte die Grünen böse an und sagte: »Darf ich mich Ihnen mit meinem vollen Namen vorstellen: Holden Russett, GdC, mit Auszeichnung.«
    Nur Mitglieder der Gilde der Chromatikologen, der NationalColor-Gilde und Absolventen der Universität Smaragdstadt durften Anhängsel hinter ihren Namen führen. Es waren die einzigen Akronyme, die erlaubt waren. Nervös geworden, sahen sich die beiden Grünen an. Nicht wofür die Bezeichnung stand, machte ihnen Angst, sondern das Unheilschwangere, das damit einherging. Viele hegten die Befürchtung – von den meisten Chromatikologen bereitwillig genährt – , dass Mustermänner, die man aus irgendeinem Grund verärgert hatte, die Verursacher kurz mit einem 332 – 26 – 85er-Muster anblitzten, was spontanen Hämorrhoidenbefall auslöste. Natürlich streng verboten, doch die Androhung eines Übels war achtmal schlimmer als das Übel selbst.
    Der Grüne schluckte und vollzog eine komplette Kehrtwende. »Verstehe«, sagte er. »Vielleicht waren unsere Forderungen ein wenig übereilt. Ihnen noch einen schönen Tag.«
    Sie standen auf und huschten durch den Waggon davon. Ich sah meinen Vater an, schwer beeindruckt von seinem Talent, einem Farbhöherwertigen die Meinung zu sagen. Das kannte ich von ihm noch nicht, und ich war gespannt, welche Seiten ich während unseres Aufenthaltes in Ost-Karmin sonst noch an ihm kennenlernen würde. Ihn jedoch schien das alles nichts anzugehen, denn er schloss die Augen und freute sich auf ein Nickerchen.
    »Machst du so etwas öfter?«, fragte ich ihn und rieb mir die Schläfen. Das Limone zeigte ihre Wirkung, kleine Explosionen in Pink erfüllten den Rand meines Gesichtsfelds.
    Er zuckte kaum sichtbar mit den Schultern.
    »Ab und zu. Gutes Zusammenleben zeichnet sich dadurch aus, dass man die Macht hat, jemanden zu bitten, etwas für einen zu tun, die Macht aber nicht unbedingt ausübt. Unhöflichkeit ist der Mehltau der Menschheit, Eddie.«
    Es war einer von Munsells Gemeinplätzen, aber im Gegensatz zu den meisten anderen traf dieser tatsächlich zu.
    Wir hielten in Persimone-am-Fluss an, wo die Orangenen ausstiegen, ein paar Blaue zustiegen und aus einem der Güterwagen vorsichtig ein Klavier gehievt wurde, während gleichzeitig anderes Frachtgut kontrolliert und aufgenommen wurde. Mit Volldampf rollten wir weiter, kamen zehn Minuten später am Abzweig Dreikamm vorbei, holperten über einige Gipfel, bogen nach rechts ab, ratterten über eine Pfahljochbrücke aus Holz und liefen in ein weites baumloses Tal ein. Hier grasten verstreut einige Herden Riesenfaultiere, Giraffen, Kudus und Sprungziegen, die aber nicht weiter Notiz von uns nahmen. Dann änderte das Gleis seine Richtung, es ging nach Norden, und wir tauchten in ein liebliches Tal von unglaublicher Schönheit. Die Route verlief entlang eines plätschernden Flusses, dessen Bett mit Felssteinen übersät war; an beiden Ufern, gesäumt von Eichen und Silberbirken, erhoben sich steile Hänge, und hoch in der Luft, über den Kalksteinklippen, kreisten Falken.
    Ich sah aus dem Fenster und spähte nach etwas Rotem wie ein Rafink nach einem Eckhörnchen. Es war Hochsommer, und der üppige Willkommensgruß der ersten Orchideen war verblasst, jetzt war die Zeit der Mohnblume, des Sauerampfers und der rosa Feuernelke. Sobald sie verwelkt waren, würden uns das Löwenmaul und die Heidenelke bis zum Ende der Jahreszeit am Leben erhalten, und so hangelten wir Roten uns mit frugaler Kost an Jahreszeitenblüten durch den Frühling und den Sommer. Allerdings stumpften unsere Sinne auch bei dem kühleren Wetter gegen Jahresende nicht ab. Der Herbst, obwohl für das Auge der Orangenen und Gelben sicher besser geeignet, bereitete auch uns immer wieder ein Bouquet heller Freude, wenn die Blätter es lange genug an den Bäumen aushielten, um ihr Grün durch eine unerwartete

Weitere Kostenlose Bücher