Grau - ein Eddie Russett-Roman
keiner.«
»Gleichheit ist erwiesenermaßen ein Mythos.« Die abgedroschenen Argumente gingen mir leicht über die Lippen. »Wäre dir eine Rückkehr zur Lebensweise der Einstigen mit ihrer destruktiven Kurzsichtigkeit und der Verherrlichung des Ichs lieber? Oder willst du dich hinabbegeben in die anarchische Wildheit des Gesindels?«
»Das sind nicht die einzigen Alternativen, ganz egal, was in Munsells Schriften steht. Wir haben was Besseres verdient. Wir alle. Wir könnten das Zusammenleben im Dorf so organisieren, wie wir es in der Grauen Zone machen. Ohne Farbkennzeichen, ohne Ränge, einfach nur Menschen. Warum muss ich mich erst als anständiges Mitglied der Gesellschaft bewähren und volles Wohnrecht erwerben, bevor ich heiraten darf? Warum muss ich einen Ei-Bon beantragen? Warum darf ich nicht nach Kobalt ziehen, wenn ich will? Warum muss ich mich all diesen Regeln unterwerfen?«
»Weil etwas passiert ist. Das Große Ereignis.«
»Und was war das?«
Darauf gab es keine klare, einfache Antwort.
»Etwas … das man am besten vergisst. Das Leben unter Munsell ist dir vielleicht verhasst, aber es hat uns fast fünfhundert Jahre alles gegeben, was wir brauchen. Außerdem befindest du dich mit deinen ganz und gar aufrührerischen Gedanken und deinem Verhalten absolut in der Minderheit.«
Sie beugte sich ein Stück vor.
»Das sagst du. Aber befinde ich mich wirklich in der Minderheit?«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich konnte nicht. Seit meinem Besuch in der Bibliothek war ich ins Nachdenken gekommen über die bislang unangefochtenen, angeblich klugen Rücksprünge. Was stand in Lok 1414 geht … ? Warum sollte der Inhalt eine tiefe Spaltung der Gesellschaft auslösen können? Was war so schlimm an Telefonen, dass sie aus dem Verkehr gezogen werden mussten? Warum durfte man Mr Simply Red nicht mehr hören? Warum gab es keine geriffelten Chips mehr, keine Fahrräder, Flugdrachen, Reißverschlüsse, Jojos, Banjos, warum kein Marzipan mehr? Ich sagte nichts, aber ich hatte innegehalten, und das reichte ihr.
»Du musst nicht meiner Meinung sein«, sagte sie ruhig. »Ich bin schon froh, wenn ich etwas Zweifel geweckt habe. Zweifel ist gut. Es ist etwas, auf das wir aufbauen können. Wenn wir es mit Neugier anreichern, kann es zu etwas Nützlichem heranreifen, zum Beispiel Misstrauen – und Aktion.«
Sie sah mich eine ganze Weile lang an.
»Aber das ist eher nicht deine Sache, was?«
Sie ließ mich in der Küche allein mit meinen Gedanken. Es waren wirre Gedanken, aber wenigstens war ich froh, dass meine seit langem gehegten Zweifel endlich einen Nutzen hatten – sie machten Jane glücklich.
Der Heiratsmarkt von Ost-Karmin
1.1.2.02.03.15: Die Ehe ist eine ehrenwerte Einrichtung und sollte nicht allein als Rechtfertigung für legalen Geschlechtsverkehr dienen.
Ich folgte den Strahlen der untergehenden Sonne stadtauswärts, die West-Straße entlang, und ließ mich auf einer Bank nieder, um das Telegramm an Constance zu entwerfen. Weder das ohnehin ausgebliebene Abenteuer mit dem Letzten Kaninchen noch das Oz-Denkmal oder der in Ungnade gefallene Gelbe Briefträger würden sie besonders beeindrucken, und Janes seltsame Ansichten über das Kollektiv zu erwähnen wäre geradezu ungehörig. Vor meiner Abreise hatte Constance mir zu verstehen gegeben, was sie von einem Ehemann am meisten erwartete: »gleichgültige Anspruchslosigkeit« und »die Fähigkeit, Befehlen zu gehorchen«. Der Einfachheit halber schrieb ich sinngemäß daher nur, dass es mein größter Wunsch sei, meiner Zivilen Verpflichtung gegenüber dem Kollektiv unbedingt auf besonders produktive Weise nachzukommen, und dass ich ununterbrochen an sie denken würde. Das war der Haupttenor. Außerdem versuchte ich mich an einem Gedicht:
Oh, Constance Oxblood, mein Herz quillt über auch,
Ergießt sich rasend, sturmgepeitscht in Bach und Strauch
Zeigt, dass ich bin kein Versager Zeigt dir, dass ich kein Versager
bin
Versager? Jasager
Nager
Mager
Ich gab auf. Ich musste meine romantischen Gedanken an jemanden auslagern, der etwas von Poesie verstand. Ich legte mein Notizbuch beiseite und blinzelte in die Sonne, die gerade hinter dem West-Gebirge unterging. Die Helligkeit nahm jetzt rasch ab, und auf der lichtabgewandten Seite waren die Hänge bereits schwarz und unförmig. Es war der Beginn der Abenddämmerung, der Übergangsperiode zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.
Es wurde Zeit, dass der Werkmeister die
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