Grau - ein Eddie Russett-Roman
befinde. Es war ungewöhnlich, dass das Dorf einen Caravaggio besaß, normalerweise kümmerten sich die Bewohner des Roten Sektors um die Turners und Kandinskys.
»Man hat ihn seit über vier Jahren nicht mehr gesehen«, fuhr Amaranth fort. »Er sollte in Schutzverwahrung genommen werden, bevor er noch schlechtem Wetter oder Gesindel zum Opfer fällt. Man weiß ja, wie sehr ihnen alte Gemälde gefallen.«
Dad sagte, er habe in Rostberg keine Zeit, nach barocken Meisterwerken zu suchen, doch Amaranth hatte einen anderen Vorschlag.
»Der Rat hat beschlossen, den Marschbefehl auf ihren Sohn auszuweiten.«
Hatte es Tommo also doch geschafft! Dad fragte mich, ob ich Lust hätte mitzukommen, und ich bejahte. Als ich aufblickte, sah ich, dass Jane mich anstarrte.
»Ich kann auf die Schnelle nur eingelegte Zwiebeln und Vanillesoße machen«, informierte sie uns und sah mich erwartungsvoll an. »Was anderes haben wir nicht im Haus.«
»Andererseits bleibe ich vielleicht lieber doch nicht«, meldete sich Amaranth wieder zu Wort und stand auf.
»Zwei Dinge, meinten Sie, wollten Sie uns mitteilen«, sagte Dad.
Amaranth schnippte mit den Fingern und sah mich an.
»Samstag kommt der Mann von NationalColor und zeigt Sonntagmittag die Testkarten. Der Rat möchte wissen, ob Sie Ihren Ishihara hier machen wollen oder ob Sie lieber so lange warten wollen, bis Sie wieder zu Hause sind.«
Das Angebot versetzte mich in helle Aufregung. Die Aussicht, meine Testergebnisse noch vor Roger Marone zu erfahren, hatte einen entscheidenden Vorteil. Falls ich gut abschnitt, konnte ich Constance zu einer Entscheidung drängen, noch ehe Roger seine Ergebnisse hatte. Selbst wenn sie mich erst noch hingehalten hätte, hätte ich die Ehe ertrotzen können, indem ich Interesse an Charlotte de Burgundy vorgetäuscht hätte. Constance konnte Charlotte nicht ausstehen. Und falls ich schlecht abschnitt, wäre es egal, ob ich Constance’ Entscheidung jetzt oder später erfuhr. Ich nickte also begeistert.
»Dann trage ich Sie in die Liste ein«, sagte Amaranth. »Viel Glück morgen. Und falls Sie in Rostberg zufällig einen Bleistiftanspitzer finden – würden Sie mir den Gefallen tun? Na dann.«
Weg war er.
»Hast du deinen Willen doch noch durchgesetzt«, sagte Dad und reichte mir das Bestellformular für die Ersatzmuster. »Roger Marone muss sich wohl nach einer anderen Frau umsehen.«
»Kann einem beinahe leidtun, der Kerl«, sagte ich grinsend. »Aber nur beinahe.«
Jane war mittlerweile in der Küche abgetaucht, und wir hörten Steingutgeschirr zu Bruch gehen.
In den nächsten zwanzig Minuten diktierte mein Vater mir die Bestellnummern, und ich trug sie brav in das Formular ein. Ich bin froh, dass ich mich Courtland und Tommos Druck widersetzte und in die Spalte für das Lincoln-Muster wie verlangt eine »1« schrieb. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen, wie ich mich bei Tommo für die Rostberg-Tour revanchieren konnte. Zum Beispiel mit einem Paar Schuhe.
»Außerdem brauche ich noch etwas 293–66–49 als Breitband gegen Entzündungen jeglicher Art«, fuhr Dad fort, nachdem er sein Handbuch zu Rate gezogen hatte. »Und einen 206–66–45er, um die Überproduktion von Ohrenschmalz einzudämmen.«
Ich notierte noch die Zahlen, als Jane mit den eingelegten Zwiebeln und der Vanillesoße hereinkam. Es schmeckte besser als gedacht, allerdings hatte ich auch damit gerechnet, dass es ungenießbar wäre, insofern hieß das nicht viel.
Das Essen dauerte nicht lange, und Dad zog sich danach in sein Büro zurück, um die Genehmigung für die Neuzuteilung der Postleitzahl und den Totenschein für den Grauen auszustellen, der in der Linoleumfabrik in die Hochleistungs-Schneidemaschine geraten war.
Ich ließ Dad allein und sah mir den Sonnenuntergang an, falls sich etwas Rot dabei zeigte. Jane wollte ich lieber aus dem Weg gehen, aber sie wartete in der Küche auf mich. Damit sie nicht gleich wieder die Oberhand gewann, musste ich als Erster etwas sagen, möglichst etwas Intelligentes, aber leider hörte es sich ganz anders an.
»Ich mache am Sonntag meinen Ishihara.«
»Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen.«
»Wirklich?«
»Nein.«
Die intelligente Gesprächsanbahnung hatte nicht funktioniert, aber die Ideen waren mir nicht ausgegangen.
»Courtland hat gar nicht die Absicht, Melanie zu heiraten.«
Ich hatte gedacht, diese Information würde wenigstens freundlich aufgenommen, vielleicht sogar für nützlich befunden werden,
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