Grau - ein Eddie Russett-Roman
Bogenlampe anzündete. Wie auf Stichwort flackerte hinter mir etwas grell auf. Die Straßenlaterne erwachte zum Leben und tauchte das Zentrum des Dorfes in ein starkes künstliches Licht. Es war nicht nur eine Methode, um den Tag zu verlängern, sondern auch ein Signal an alle Bewohner, die noch unterwegs waren, sich auf den Heimweg zu machen. Ich sah, wie sich die Spiegel auf den Hausdächern einpegelten, um das Licht einzufangen, damit die Strahlenteiler, Luxfer-Prismen und Multiplikatoren, die tagsüber das Innere der Häuser erhellten, nun in der Nacht das Dorf mit Licht versorgten.
Als Kinder spielten wir früher gerne Nachtlaufen. Gewinner war der, der als Letzter in den schützenden Lichtkegel der brennenden Straßenlaterne zurückkehrte. Meistens waren es Richard oder Lizzie, aber einmal wurde beschlossen, dass ein Meisternachtläufer ermittelt werden sollte. Beide stellten sich in der Mitte des Sportplatzes auf und warteten darauf, dass die Nacht anbrach. Wir anderen standen erwartungsvoll auf dem Marktplatz, setzten Wetten aus und lachten. Wer als Erster kniff, hatte verloren, wer zuletzt zurückkehrte, war der Gewinner. Lizzie kehrte zuerst zurück, doch gewonnen hat Richard trotzdem nicht. Acht Monate später fanden Graue beim Beschneiden der Stockausschläge im Wald den Jungen ein paar Kilometer jenseits der Außenmarkierungen. Er konnte nur anhand seines Löffels identifiziert werden, und einen Tag später wurde seine Postleitzahl neu vergeben. Danach wollte keiner mehr Nachtlaufen spielen.
Innerhalb von Minuten waren der Fluss, die Steinmauer und die Linoleumfabrik verschwunden, verschluckt von der dunklen Walze der Nacht, die über das Land rollte. Als meine Augen die Schatten nur noch als finstere Löcher wahrnahmen, gab ich meinen Platz auf und begab mich zurück zu dem geschützten Marktplatz. Die Straßenlaterne leuchtete hell und sorgte mit dem typischen Zischen des Lichtbogens und dem gelegentlichen Fiepen und Flackern dafür, dass die Schrecken der Nacht sich zerstreuten. Hinter mir war nur noch die Knisterfalle auf dem Flakturm als Silhouette vor einem sich rasch verdunkelnden Himmel zu erkennen.
»Hallo!«, grüßte plötzlich Tommo und kam auf mich zu. »Ich habe dich schon gesucht.«
Ich erwiderte seinen Gruß und bedankte mich dafür, dass er meinen Ausflug nach Rostberg gedeichselt hatte.
»Kein Problem. Hast du daran gedacht, das Lincoln für uns zu bestellen?«
»Gar nicht so einfach. Die Sache hatte einen kleinen Haken.«
»Nur keine Angst«, sagte Tommo. »Nicht vor mir zumindest. Courtland hingegen hat Jim-Bob mal so zusammengeschlagen, dass der Blut in seiner Pisse hatte.«
»Ich werde euch das Lincoln schon noch besorgen.«
»Ich weiß. Aber was viel wichtiger ist: Hast du vor, meine Schwester zu heiraten?«
An Tommos unvermittelte Themenwechsel musste ich mich noch gewöhnen.
»Ich wusste noch nicht mal, dass du eine Schwester hast.«
»Ich bemühe mich ja auch nach Kräften, diesen Zustand zu erhalten.«
»Da komme ich nicht ganz mit.«
»Ganz einfach. Als Roter mit mittlerer Farbwahrnehmung und Sohn eines Mustermanns wird sich die feine, erhabene Rote Damenwelt dieses stinkenden Kaffs um deine Klöten zanken wie Hunde um einen frischen Kadaver.«
»Sehr anschaulich ausgedrückt, wenn auch etwas abstoßend. Aber es tut mir leid, ich habe einer Oxblood ein halbes Versprechen gegeben.«
Tommo staunte nicht schlecht. Es gab nicht viel, das Eindruck auf ihn machte, aber das schon. Die Verbindung mit der Familie Oxblood wäre meine Lizenz zu einem sorgenfreien Leben, erklärte ich ihm. Nach Josiah Oxbloods Pensionierung würden wir gemeinsam die Bindfadenfabrik leiten, und es sei ja bekannt, dass die Oxbloods in Kohle schwammen.
»Sie haben drei fest angestellte Diener«, prahlte ich, »ein rücksprungkonformes Gyro-Auto, und sie essen natürlich colorierte Lebensmittel.«
»Und sind berüchtigt für ihren Rotzentrismus«, murmelte Tommo.
Auch das stimmte. Über Generationen hatten die Oxbloods ihre Partner sehr sorgfältig ausgesucht, und es wurde gemunkelt, dass Constance’ Sprösslinge aus einer Verbindung mit einem Mann von entsprechend hoher Rotwahrnehmung sogar noch das Rot der Karmesins übertreffen und sie aus dem Amt der Roten Präfektur vertreiben würden.
»Stehst du wenigstens weit vorne in der Kandidatenschlange«, wollte Tommo wissen, »oder bist du nur ein armer Möchtegern? Anders ausgedrückt: Habt ihr schon Kosenamen füreinander
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