Graue Schatten
Bettlägerigen übernehmen wollte. Und bis jetzt hatte sie Irene nicht mehr gesehen.
Nachdem Larissa den Kaffee verteilt hatte, kurz ins Zimmer von Frau Dietz geschaut und die Frau schwer daliegen gesehen hatte, beschloss sie, für sie frischen Kamillentee aufzugießen.
Frau Dietz hatte eine chronische Herzinsuffizienz und Bodos Bericht bei der Übergabe nach, heute Vormittag wieder einen starken Anfall von kardialem Asthma bekommen.
Als es ihr noch etwas besser ging, hatte Frau Dietz eine Verfügung aufsetzen lassen, die beinhaltete, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen und vor allem nicht mehr ins Krankenhaus wolle. Sie wusste, dass sie sterben musste, und das wollte sie hier tun.
Ihr schwacher Kreislauf konnte jederzeit zusammenbrechen. Aber Frau Dietz war hier so weit versorgt, dass sie nicht leiden musste. Diesen Zweck sollte ja sicher auch das Morphium von heute Morgen erfüllen, dachte Larissa. Aber Renate hatte irgendwie eine Aversion gegen dieses Medikament. Sie schien es grundsätzlich abzulehnen. Auch dann, wenn es einer sterbenden Frau die letzten Lebenstage ein bisschen erträglicher machte. Und abhängig würde Frau Dietz bestimmt nicht mehr werden.
Sie verstand die Chefin sowieso nicht mehr. Früher hatte sie ihren Musterpfleger Kevin in den Himmel gelobt, und plötzlich ließ sie ihn anscheinend einfach fallen! Larissa war sich sicher, dass Renate und die anderen vorhin über ihn geredet hatten. Aber warum redete keiner mit ihr? Warum wurde sie ausgeschlossen? Fast hätte sie vorhin bei der Übergabe ausposaunt, was Anna ihr am Vormittag anvertraut hatte, nur um ihnen zu zeigen, dass Kevin in diesem Punkt schon zu Unrecht verdächtigt wurde. Aber nachdem der Hauptkommissar nicht zu erreichen gewesen war, hatte Larissa Anna vorerst Stillschweigen versprochen.
Das alles ging Larissa nun hier in der Etagenküche im Kopf herum. Sie hoffte, dass dieser Albtraum schnell vorbeigehen würde, wartete darauf, dass das Wasser kochte, und musste schon wieder mit den Tränen kämpfen. Früher hatte sie nicht so oft heulen müssen, erinnerte sie sich.
Im Wasserkocher blubberte es. In dem Moment als sie den Kamillentee aufgießen wollte, brach irgendwo auf dem Gang ohrenbetäubenden Lärm los. Zuerst konnte sie nicht genau einordnen, wo er herkam. Es schepperte, klirrte und polterte. Zugleich schrie eine weibliche Person, sofort darauf weitere und eine männliche. Letztere gehörte eindeutig zu Herrn Eiche!
Das bedeutete Alarmstufe Rot! Sie ließ den Kocher fallen und war innerhalb der nächsten Sekunde draußen auf dem Gang. Dort erkannte sie sofort, in welche Richtung sie rennen musste: Der Krach kam aus dem Westflügel, von ihrer Station her, aus dem Aufenthaltsraum.
Hier herrschte ein einziges Tohuwabohu. Renate war bereits eingetroffen und brüllte Herrn Eiche an: „Was ist denn hier los?“
Auf den ersten Blick war das tatsächlich schwer zu erkennen. Herr Eiche stand in einer der Lücken zwischen den Anrichten, die die Zugänge zum Aufenthaltsbereich bildeten, neben einer der weißen Säulen. Er stierte nun verdattert und gleichzeitig böse Larissa an. Hinter ihm konnte die Pflegerin nichts Auffälliges bemerken. Außer, dass an einem Tisch am Fenster die Tischdecke fehlte und einige Bewohner an den Tischen aufgeregt durcheinanderschnatterten. Eine war aufgestanden, redete unverständlich und deutete auf die Ecke mit dem leeren Tisch. Während Renate auf Herrn Eiche einredete, lief Larissa durch den zweiten Zugang in den Aufenthaltsraum und sah nun die Bescherung.
„Frau Siedhammer!“, rief sie.
Die Frau lag in der Ecke auf dem Boden und rührte sich nicht. Zur Hälfte war sie mit der Tischdecke bedeckt, die sie im Fallen wohl vom Tisch gerissen hatte. Auf dem Boden waren Scherben von Kaffeegeschirr und Zucker verteilt. Dazu eine Kaffeepfütze zu Füßen von Frau Siedhammer. Eine einzige Sauerei. Allerdings war das jetzt nebensächlich. Larissa stürzte zu der Frau am Boden.
„Frau Siedhammer, hören Sie mich?“ Während sie mit ihr redete, stützte sie mit einer Hand ihren Kopf.
Sie öffnete die Augen. Offensichtlich war sie nur benommen oder hatte sich als Schutzreaktion bewusstlos gestellt. Aber blass war sie auch!
„Können Sie aufstehen?“ Larissa versuchte sie vorsichtig aufzusetzen. Es klappte nicht. Die Frau sank wieder zu Boden. Larissa brauchte Hilfe, schaute sich nach Renate um und nahm nun wahr, dass die nicht mit Herrn Eiche fertig wurde. Die Chefin redete immer
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