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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Nimtsch
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verhielt sich wie eine Fremde oder wie jemand, der verletzt worden war, und sich nun distanzierte. Doch das war nie Irenes Art gewesen, und Larissa war sich auch sicher, ihre Kollegin nicht verletzt zu haben.
    Nach ein paar Minuten ließ Larissa Frau Siedhammer allein und ging hinaus. Die Bewohnerinnen im Aufenthaltsraum hatten sich beruhigt und den Zwischenfall sicher schon vergessen. Sie saßen lethargisch wie immer auf ihren Stühlen. Die Sauerei unter dem Tisch an der Ecke hatte wohl Irene schon beseitigt.
    Larissa ordnete ihre Gedanken und beschloss, doch noch frischen Kamillentee für Frau Dietz zu machen.
    Also ging sie wieder in die Küche und schaltete noch einmal den Wasserkocher ein. Mit der Tasse Tee in der Hand lief sie wenig später erneut am Aufenthaltsraum vorbei. Irene kam mit einer Bewohnerin aus einem Zimmer und fragte ungewohnt forsch: „Was machst du gerade?“
    „Ich gehe zu Frau Dietz, bringe ihr Tee.“
    „Du weißt, dass wir mit den Leuten hier Toilettentraining machen müssen?“
    „Nein, ich arbeite ja erst seit gestern hier“, rutschte es Larissa raus, während sie weitereilte. Die ganze Zeit schwieg das Plappermaul des Hauses, dachte sie, und dann wollte sie einen noch belehren wie einen Azubi!
    Irgendwas hörte sie Irene noch brummeln, als sie die Tür zum Zimmer von Frau Dietz öffnete.
    Die Frau lag mit erhöhtem Kopfteil und geschlossenen Augen im Bett. Ihr Zustand war offensichtlich gleichbleibend schlecht. Sie atmete schwer, aber gleichmäßig, nur ihre Lippen waren blau. So wie laut Bodo bereits am Vormittag.
    Larissa sprach sie an: „Frau Dietz, möchten Sie etwas Kamillentee trinken?“
    Sie reagierte nicht. Auch das hatte sie wohl schon vormittags nicht getan.
    Larissa stellte das Kopfteil noch etwas höher. Sie legte der Frau die Sauerstoffbrille an, verband den Schlauch mit dem Sauerstoffgerät und drehte das Ventil so weit auf, dass es zwei Liter pro Minute anzeigte. Dann tauchte sie ein Wattestäbchen in den Kamillentee und feuchtete damit die trockenen Lippen und die Zunge der Frau an. Frau Dietz ließ es geschehen, ohne den Mund zu bewegen. Sie war sicher erschöpft.
    Tochter oder Sohn wollten angerufen werden, wenn sich der Zustand ihrer Mutter verschlechtern sollte. Aber das war nicht der Fall. Sie kämen abends nach ihrer Arbeit sowieso vorbei, wusste Larissa. Die zwei Kinder der Bewohnerin, beide selber kurz vor der Rente, gehörten zu denen, die dem Pflegepersonal vertrauten. Frau Dietzs Sohn war dabei gewesen, als sie mit ihrem Hausarzt zusammen die Verfügung verfasst hatte. Er hatte erstaunlich verständnisvoll zur Kenntnis genommen, dass seine Mutter keine lebensverlängernden Maßnahmen wollte.
    Larissa hielt einen Moment ihre Hand. „In zwei Stunden kommen Ihre Kinder wieder her. Ich muss leider gleich weiter“, sagte sie und ließ dann Frau Dietz allein.
    Im Schwesternzimmer saß Renate wieder mal am Schreibtisch.
    „Ich habe bei Frau Dietz den Sauerstoff noch mal angeschlossen, Renate. Sie hat wieder blaue Lippen und kriegt offensichtlich schwer Luft.“
    Die Chefin schaute auf. „Ist sie wach?“
    „Schwer zu sagen. Sie hat nicht reagiert.“
    „Hast du ihren Puls gemessen?“
    „Nein.“
    „In Ordnung. Ich gehe nachher auch noch mal rein.“ Renate zeigte mit dem Daumen auf den Aktenwagen hinter sich: „Gleich dokumentieren, was du gemacht hast.“
    Larissa zog den Ordner aus dem Aktenwagen. Nachdenklich schrieb sie ein paar Worte ins Berichtsblatt. Auch das war neu an Renate, dass sie so penibel darauf achtete, dass man sofort jeden Handgriff dokumentierte.
    Sie hängte die Akte wieder ein und versuchte abzuwägen, ob sie Renate jetzt ansprechen könnte. So ein komisches Gefühl im Magen hielt sie schließlich davor zurück. Und die Chefin war sowieso in ihren Schreibkram vertieft. Larissa verließ das Schwesternzimmer.
    Das grüne Licht über dem WC neben dem Aufenthaltsraum war an. Ihre neuerdings schweigsame und mürrische Kollegin war noch immer mit dem Toilettentraining beschäftigt.
    „Wen muss man noch machen?“, fragte Larissa sie.
    „Ach, dass du mir doch noch hilfst ...“
    „Ich war bei Frau Dietz. Sie kriegt wieder schwerer Luft. Ich hab ihr Sauerstoff gegeben.“
    „Ich dachte, dafür ist Renate zuständig. Wir haben hier noch genug Leute, die aufs Klo müssen.“
    Larissa versuchte Irenes Vorwurf zu ignorieren. „Wen muss man noch auf Toilette führen?“, fragte sie noch einmal.
    „Ich habe Hohlbaum, Meier und Schulze

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