Graue Schatten
betrat, wurde sie von einem unterkühlten „Hallo“ aus Renates und Irenes Mund und von einem nachdenklichen „Hallo, Larissa“ von Max und Bodo, den beiden von der Frühschicht empfangen. Dann sagte Renate hastig, dass man ja nun anfangen könne, was Bodo auch sofort tat.
Larissa schaute fragend in die Runde, doch Max war der Einzige, der ihrem Blick nicht auswich. Auch er zog aber nur unwissend die Schultern nach oben. Bodo las die Namen der Bewohner vor und sagte selbst das meiste von dem, was unbedingt gesagt werden musste. Das war nicht viel. Außer der Tatsache, dass wieder eine Bewohnerin im Sterben lag, gab es wohl nichts Außergewöhnliches zu berichten. Diese Bewohnerin sorgte auch für die einzige Situation während der gesamten Übergabe, bei der dieser eisige Schleier des Schweigens, der die Anwesenden einzuhüllen schien, kurz aufriss. Was darunter hervorkam war allerdings auch nicht sehr herzerwärmend: Bodo teilte unter anderem mit, dass Dr. Hansen vormittags im Haus gewesen sei und Frau Dietz Morphium intravenös injiziert habe. Daraufhin bemerkte Renate zynisch, dass der Einzige, der jetzt applaudieren würde, leider nicht mehr anwesend sei.
Irene nickte, Max schaute aus der Wäsche, als wolle er sich da raushalten und Bodo meinte, dass er dazu besser jetzt nichts sage. Renate befürwortete dies, das Thema war beendet und Bodo fuhr mit der Übergabe fort.
Larissa war zu perplex, um gegen diese affige Anspielung auf Kevins Meinung zu Morphium zu protestieren. Irgendwie traute sie sich auch nicht. Die Atmosphäre war einfach zu feindselig.
Als sie durch waren, zehn Minuten früher als regulär, sprang Max sofort auf, anscheinend froh, sich aus dem Staub machen zu können. Auch Irene stand auf und meinte, sie wolle mit dem Kaffee anfangen. Während Bodo seinen Brotbeutel aus dem Schrank nahm, erwähnte er Renate gegenüber noch kurz, dass die Telefonnummern der Kinder von Frau Dietz an der Pinnwand hingen. Larissa saß noch einen Moment lang da wie bestellt und nicht abgeholt und überlegte, wie sie Renate auf die seltsame, unerträgliche Stimmung ansprechen könnte. Als die aber sofort hinter dem Medikamentenschrank verschwand, folgte Larissa kurzentschlossen Bodo, der gerade das Schwesternzimmer verlassen hatte.
Vor dem Eingang zum Treppenhaus holte sie ihn ein und fragte ihn, ob er einen Moment Zeit habe. Sofort bemerkte sie, dass ihm das nicht behagte. Das war Larissa von ihm überhaupt nicht gewöhnt. Immerhin blieb er stehen und schaute sie mitleidsvoll an. Auf ihre Frage, was bei der Übergabe los gewesen sei, meinte er nur, dass nach allem, was passiert sei, nun mal keiner so richtig fröhlich sein könne.
Das war Larissa zu allgemein. Sie fragte ihn, ob sie sich vorher über Kevin unterhalten hätten, vor allem, ob Renate sich über ihn geäußert habe.
Ohne sie anzusehen, begann Bodo zu reden: „Wenn der Junge weniger mit Fachausdrücken um sich geworfen hätte und stattdessen mehr auf die Belange der Bewohner eingegangen wäre, wäre das sicher hilfreicher gewesen, Larissa. Tschau, ich muss los.“ Dann verschwand er einfach ins Treppenhaus.
Mit dieser Reaktion hatte sie bei Bodo nicht gerechnet, sie gab ihr den Rest. Bodo, ihr privater, interner Psychologe, der stets für sie da gewesen war, der kanzelte sie nun mit einer vieldeutigen Bemerkung ab und ließ sie praktisch stehen.
Wie Bodo darüber dachte, ob Kevin etwas mit den Todesfällen zu tun hatte, sagte er damit nicht direkt. Aber es klang eher so, dass er froh darüber war, dass Kevin nicht mehr hier arbeitete. War da nicht auch so etwas wie Neid herauszuhören gewesen? Larissa wusste, dass Bodo mit einem Posten als Stationsleitung im Haus liebäugelte, dass aber Stur lieber Kevin die nächste freie Stelle in dieser Position gegeben hätte. Nur, dass der Pflegedienstleiter, genau wie vermutlich auch Bodo, keine Ahnung davon hatte, wie wenig Kevin daran interessiert war. Aber dass Bodo seine Meinung über Kevin nach seinem eigenen Vorteil ausrichten würde, das konnte Larissa nicht glauben. Sicher hatte er Angst oder war durch die Polizei verunsichert, so wie vermutlich auch die anderen.
Nun war Larissa erst recht nicht mehr danach zumute, Renate anzusprechen. Sie ging direkt zur Etagenküche, sah dort den fertig vorbereiteten Kaffeewagen stehen und begann Kaffee und Kuchen zu verteilen. Irene hatte sich bereits in ein Zimmer verzogen, um jemandem zu helfen. Damit hatte sie wortlos signalisiert, dass sie die
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