Graue Schatten
gemacht. Kannst es dir aussuchen.“
Larissa ging wortlos zum Aufenthaltsraum, um die Bewohnerinnen zur Toilette zu bringen.
Wenig später, als sie gerade mit einer Bewohnerin im WC beschäftigt war, hörte sie draußen kurz das Martinshorn. Ein Rettungswagen war anscheinend in den Hof gefahren. Sie fragte sich, wo im Haus es wohl einen Notfall gab.
Zwei Minuten später trat sie mit Frau Dünnbier aus dem WC auf den Flur und erschrak. Zwei Rettungssanitäter flitzten mit ihrem Alukoffer und einer Trage an ihr vorbei.
Sie schaute ihnen nach. Weiter hinten stand Renate im Gang und hielt den Sanis eine Tür auf – es war die von Frau Dietz‘ Zimmer! Sie eilten hinein, Renate folgte ihnen und schloss die Tür von innen.
Larissa war geschockt. Das konnte doch nicht wahr sein!
Sie ging in Richtung des Zimmers. Renate kam wieder heraus, überquerte den Gang, ohne Larissa zu beachten, und verschwand im Schwesternzimmer.
Larissa folgte ihr. „Was ist passiert?“
„Ich hab den Rettungsdienst angerufen, das ist passiert.“ Renate ließ ihren massigen Körper auf den Drehstuhl am Schreibtisch fallen, dass es krachte, und begann ein Formular auszufüllen.
Larissa ignorierte, dass Renate offensichtlich schwer genervt war. Sie wollte wissen, was ihre Chefin zu dem radikalen Schritt bewegt hatte, den Rettungsdienst zu rufen. „Ist sie kollabiert?“, fragte sie.
„Noch nicht.“
„Hat sie keine Luft mehr bekommen?“
„Nein, aber es hätte jederzeit dazu kommen können. Schließlich hat sie ein Lungenödem. Ihr Puls war hundertzwanzig und ihre Hand hat gezittert. Hast du das vorhin nicht bemerkt?“
Darauf hatte Larissa nicht geachtet, aber diese Symptome waren doch nicht neu. Auch das hatte Bodo schon erwähnt. Larissa verstand immer noch nicht. Dr. Hansen hatte doch für zu erwartende Komplikationen entsprechende Maßnahmen angeordnet. Frau Dietz bekam eine Latte von Medikamenten, die ihr die Atmung erleichterten und das Herz entlasteten. Alle waren sich einig, dass sie nicht leiden muss. Und ab heute Abend sollte auch eine Sitzwache ständig bei ihr sein. All das, damit Frau Dietz auf keinen Fall mehr ins Krankenhaus musste und hier in gewohnter Umgebung und in Ruhe, ohne unnötige Beschwerden, ihre letzten Tage verbringen konnte.
„Und wenn sie sie jetzt mitnehmen?“, fragte Larissa.
Renate füllte weiter das Formular aus. „Willst du, dass sie hier langsam erstickt?“, konterte sie.
„Nein! ... aber sie erstickt doch nicht, oder?“
Renate schrieb einfach weiter.
Larissa war verwirrt. Hatten die anderen vor der Übergabe etwas besprochen, wovon sie nichts wusste? „Sie hat doch extra gesagt, dass sie hier sterben will. Sie hat doch solche Angst vor dem Krankenhaus ... Ich dachte, wir sollten Hansen anrufen, wenn es ihr schlechter geht“, Larissa wusste, dass sie die Chefin nun nervte. Aber sie wollte wissen, was hier los war ...
„Du weißt, was Hansen macht, wenn ich ihn anrufe?“, fragte die Chefin.
Larissa konnte sich denken, worauf Renate hinaus wollte.
Die Chefin verriet es ihr trotzdem: „Der Gnadendoktor gibt ihr noch einen Schuss der Lieblingsdroge deines werten Herrn Linde, obwohl sie jetzt schon so benebelt ist, dass sie nicht mehr sagen kann, ob sie sich's vielleicht inzwischen mit dem Krankenhaus anders überlegt hat. Und die Kinder brauch ich auch nicht anzurufen, weil sie die in ihrem Zustand sowieso nicht wahrnimmt.“
Mit jedem Wort wurde Renate lauter. Ihre Stimmlage schraubte sich immer höher. Erst jetzt erkannte Larissa, wie aufgebracht die Chefin war. „Und außerdem, wenn sie uns hier stirbt, was meinst du, wer den Kopf hinhalten muss, wenn ihre anderen Verwandten nicht unserer Meinung sind? Du? Oder ihr Sohn, oder Hansen? Bestimmt nicht! Ich bin die, die mit einem Bein im Knast steht. Ich muss entscheiden, ob ein Notfall vorliegt oder nicht. Und außerdem: Gibt es hier gar nichts mehr zu tun?“, schrie sie mittlerweile beinahe.
Unfähig irgendwas zu sagen, stand Larissa kurz verdattert da und verließ dann schnell das Schwesternzimmer. Eigentlich hatte Renate ja recht. Sie musste den Kopf hinhalten. Trotzdem verstand Larissa nicht, warum sie den Rettungsdienst gerufen hatte. Frau Dietz tat ihr leid. Wenn sie nun im Krankenhaus wieder zu sich kommen würde, das musste doch furchtbar für sie sein!
Und Renate, die schien irgendwie langsam durchzudrehen. So hatte Larissa sie noch nie erlebt. Sie ist so unfair!, dachte sie. Diese verächtlichen Bemerkungen über
Weitere Kostenlose Bücher