Graue Schatten
Kevin! Womöglich hatte die Chefin der Polizei etwas erzählt, was ihn dahin gebracht hatte, wo er jetzt war?
Während Larissa, ohne zu wissen wohin, den Gang entlang ging, erinnerte sie sich noch einmal daran, dass Bodo bei der Übergabe erwähnt hatte, dass er heute Morgen dabei gewesen war, als Hansen ihr die Spritze gegeben hatte. Frau Dietz sei bei vollem Bewusstsein gewesen. Hansen hatte ihr anscheinend deutlich erklärt, dass sie durch das Morphium müde werden und vielleicht nicht mehr alles mitbekommen würde.
Erst als Larissa die kalte Novemberluft einatmete, wurde ihr bewusst, dass sie, völlig gedankenversunken, unwillkürlich auf den Balkon am Ende des Westflügels gelaufen war.
„Raucherbalkon – für den kurzen Kick zwischen zwei Nahkampfrunden“, hatte Kevin manchmal gelabert. Larissa erinnerte sich, wie sie oft hier gestanden hatten. Meistens zu zweit. Manchmal war noch Locke oder jemand anders von Station A dazugekommen. Mitten im Stress hatten sie sich kurz abgeseilt, um eine zu rauchen und gleichzeitig durchzuatmen. Obwohl diese Pausen nie länger als drei, vier Minuten dauerten, waren sie sehr intensiv gewesen und hatten gereicht, um die Akkus wieder für die nächste Stunde aufzuladen, erinnerte sich Larissa.
Sie sah verschwommen die dunklen Nadelbäume und den grauen Himmel vor sich und dachte daran, dass sie in jenen Minipausen immer einen Augenblick lang richtig glücklich gewesen war. Weniger wegen der Zigarette. Eher, weil sie sich hier normal unterhalten konnte. Mit Leuten, mit denen sie sich super verstand. Mit Freunden! Ein paar Gedanken austauschen und vor allem lachen, über die Arbeit und das Elend, das eigentlich nicht zum Lachen war, das konnte man hier tun. Solche Momente waren einfach überlebensnotwendig.
Jetzt sollte es das wohl nicht mehr geben. Die Freunde waren nicht mehr da oder hatten sich total verändert. Innerhalb einer Woche! Wie konnte das so schnell gehen?
Jetzt hatte sie nicht mal Zigaretten dabei. Sie hielt sich am kalten Eisengeländer des Balkons fest und atmete noch einmal tief, aber stotternd ein.
Hinter ihr ging die Glastür auf. Erschrocken drehte Larissa sich um.
„Vor mir brauchst du dich nicht zu erschrecken.“ Irene stellte sich neben Larissa und legte ihren Arm um sie.
Eine Geste, die Larissa von Irene kannte und die sie wieder an die Zeit vor der letzten Woche erinnerte. „Ich war ganz in Gedanken“, sagte sie.
„Die Sanis sind wieder gegangen und haben Frau Dietz hiergelassen“, teilte ihr Irene mit.
„Gott sei Dank!“, stieß Larissa erleichtert aus.
Irene legte eine Hand auf Larissas Schulter und drückte sie leicht, sagte aber nichts.
„Aber was ist mit Renate los?“, fragte nun Larissa. „Bloß weil sie Hansen nicht leiden kann und eine Abneigung gegen Morphium hat ... und ständig macht sie irgendwelche Anspielungen auf Kevin ...“
„Sie hat halt die Verantwortung. Sie wird schon wissen, was sie macht“, verteidigte Irene die Chefin.
„Und was hat sie über Kevin gesagt?“
„Nichts ...“
Das klang nicht sehr überzeugend, fand Larissa. Eher wie eine komplette Lüge.
„Und was denkst du über Kevin?“, fragte sie. „Hat er Frau Sausele vergiftet und Frau Müller den Felsen runtergestoßen? Und Frau Leutle die Torte zugesteckt, damit sie an Überzucker stirbt, und dem Fritz das Brötchen, damit er dran erstickt? Glaubst du das?“
Irene nahm ihren Arm von Larissas Schulter. „Keiner weiß, was in der Nacht mit Frau Sausele passiert ist ... und im Wald mit Frau Müller und was da sonst noch abgelaufen ist. Das muss die Polizei rausfinden.“
Larissa musste sich wieder auf die Zunge beißen, um Annas Geheimnis nicht zu verraten. „Bloß, die fragen ja uns, was wir darüber wissen und denken, oder nicht?“, sagte sie nur.
„Mich hat noch niemand was gefragt ...“
„Und Renate? Was hat die erzählt? Mit mir redet sie ja nicht mehr, zumindest nicht normal.“
Irene stand schweigend neben ihr am Balkongeländer.
„Was habt ihr heute vor der Übergabe geredet?“ Sie haben sich sicher unterhalten, dachte Larissa. Wahrscheinlich hatten ihre lieben Kollegen ihr Gespräch abgebrochen, als sie vorhin auf Station gekommen war und sie die Tür zum Treppenhaus zuschlagen gehört hatten.
„Aber sag's nicht weiter“, begann Irene plötzlich.
Larissa ahnte, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte, schüttelte den Kopf und schaute Irene an.
„Dass sich Renate und Kevin wegen dem Morphium bei Frau Sausele
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