Graue Schatten
betuchte Kunden und rechtfertigt den höheren Preis. Ich sehe schon den Prospekt vor mir: Auf der einen Seite das triste Schattengrau mit bröckelndem Putz und überfordertem Personal, auf der anderen unsere Edelresidenz.“
„Vergleichende Werbung ist ja nicht mehr verboten“, pflichtete Locke ihm bei.
„Natürlich gibt es nur Einzelzimmer, jedes mit Balkon.“
„Mit Blick auf den Neckar.“
„Alles wird angeboten, was das Luxusleben versüßt: genügend Platz für eigene Möbel, modernste Technik, natürlich ein eigenes Appartement mit Bad für jeden.“
„Wenn ein Herr eine Dame für besondere Dienste wünscht, kein Problem, wird diskret arrangiert.“
„Oder ein Tütchen.“
„Und die besten Ärzte. Nicht solche Trantüten wie der Hansen, der das Pflegepersonal fragt, ob es recht sei, wenn er eine Aspirin verschreibe.“
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür.
Vielsagend lächelnd zog Locke die Augenbrauen nach oben. Kevin zuckte mit den Schultern und schaute seinen Kumpel fragend an. Der erhob sich schwerfällig und schwankte einen Moment, als er stand.
„Patientinnen?“ Kevin spürte eine gewisse Erregung erwachen.
„Schaun wir mal.“ Locke torkelte gen Flur.
Kevin schenkte sich behutsam das restliche Bier aus der Flasche ein und spitzte die Ohren. Fängt ja gut an das neue Junggesellendasein, dachte er.
Aber es waren keine Frauenstimmen zu hören. Dafür schaute Locke durch die Wohnungstür herein.
„Niemand da. Wahrscheinlich der Psychopath von Nachbar. Ich geh mal verklappen.“
Er verschwand erneut.
Als er wiederkam, hatte Kevin zwei weitere Flaschen Hofbräu geöffnet und beiden eingeschenkt.
„Auf dein Senioren-Paradies, Alter!“ Locke setzte sich und hob sein Glas.
„Auf deine Reiki-Praxis. Die kannst du da integrieren.“
Sie stießen an und Kevin fuhr mit der Planung seines Heimes fort. Mit jedem weiteren Bier, mit jedem Zug aus der Tüte machte das mehr Spaß. Und doch glaubte er keinen Augenblick daran, dass das, was die zwei hier ersannen, jemals wahr werden würde, nicht einmal, dass er es versuchen würde. Bei seinem Kumpel war er sich da nicht ganz sicher. Er war sehr leicht zu begeistern und manchmal etwas zu leichtgläubig.
„Kein Kantinenfraß, sondern drei Menüs zur Auswahl.“
„Siehe Sausele. Privatversichert. Ihr Sohn hat ihr ein Luxusleben im Schattengrau finanziert. Einzelzimmer. Mittagessen vom Caterer, weil ihr das Heimessen nicht geschmeckt hat. Der Hausarzt kommt am Sonntag auf Wunsch ans Bett und verabreicht ihr Morphium.“
„Jetzt nicht mehr.“
Kevin war müde. Locke war breit. Er sagte: „Scheiße, weißt ...“ Er hatte Schwierigkeiten, das nächste Wort herauszubekommen und begann von vorn: „Scheiße, weißt du, dass wir morgen früh raus müssen?“
„Nee“, antwortete Kevin mit gläsernen Augen. „Wir lassen uns von Hansen einen Totenschein ausstellen. Dann sind wir entschuldigt.“
„Das ... ne gute Idee“, lallte Locke.
„Gell? Das macht der gute Mann für uns.“
„Aber was, wenn er was merkt?“
„Richtig ... hab ich nicht bedacht.“ Kevin fielen fast die Augen zu. „Ich glaube wir müssen morgen doch gehen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich's mir die paar Stunden auf deiner Psycho-Couch bequem mache.“
Mitten in der Nacht, zwei oder drei Stunden später, wachte Kevin schweißgebadet aus einem grausigen Albtraum auf. Sein Puls raste. Um ihn herum war es stockfinster. Der Traum hatte an und für sich ganz harmlos angefangen: Zwei junge Frauen in weiße Gewänder gehüllt waren hier zur Tür hereingeschwebt. Locke hatte jeder artig eine Zigarette angeboten und die Girls hatten schnell ihre Hüllen fallen lassen. Als es richtig interessant wurde, verwandelte sich Lockes Wohnung plötzlich in das Schwesternzimmer von Station B im Schattengrau .
Danach ging alles sehr steil nach unten in Richtung Hölle. Die Mädels alterten innerhalb von Sekundenbruchteilen um Jahrhunderte. Ein bulliger, verwirrter Heimbewohner, der wirklich existierte, drohte mit einer Spritze, die überraschend durch die Luft flog und Kevin verfolgte. Locke war weg. Kevin war plötzlich ganz allein auf dem Flur der Station. Die gealterten Girls mit ihren schmerzverzerrten Zombiegesichtern verfolgten Kevin. Er flüchtete sich in Zimmer 215. Das letzte Bild kurz vor dem Aufwachen war das Gesicht der toten Marta Sausele gewesen. Mit offenem Mund hatte sie ihn vorwurfsvoll angestarrt.
Donnerstagmorgen
Renate, Larissa und Tom hatten
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